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MASSENPSYCHOLOGIE
UND
ICH-ANALYSE
PROF. SIGM. FREUD
INTERNATIONALER
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG G. M. B. H.
LEIPZIG TIEN ZORICH
im
Alle Rechte, besonders das der Obersetzuns^ in alle Spradien» vtM'behalten.
Copyrijfht 1^1 by „IntematioBaler Psychoanalytischer Verlag-, Ges. m. b. H." Wien.
Gesellschaft für graphische Industrie, Wien III.
Inhalt.
I. Einleitung 1
IL Le Bon's Schilderung der Massenseele ... 5
III. Andere Würdigungen des kollektiven Seelen-
lebens 25
IV. Suggestion und Libido 37
V. Zwei künstliche Massen: Kirche und Heer . . 46
VI. Weitere Aufgaben und Arbeitsrichtungen ... 57
VII. Die Identifizierung 66
VIII. Verliebtheit und Hypnose 78
IX. Der Herdentrieb 89,
X. Die Masse und die Urhorde 100
XI. Eine Stufe im Ich 112
XII. Nachträge 122
I.
Einleitung.
Der Gegensatz von Individual- und Sozial- oder
Massenpsychologie, der uns auf den ersten Blick
als sehr bedeutsam erscheinen mag, verliert bei ein-
gehender Betrachtung sehr viel von seiner Schärfe.
Die Individualpsychologie ist zwar auf den einzelnen
Menschen eingestellt und verfolgt, auf welchen
Wegen derselbe die Befriedigung seiner Trieb-
regungen zu erreichen sucht, allein sie kommt da-
bei nur selten, unter bestimmten Ausnahmsbedin-
gungen, in die Lage, von den Beziehungen dieses
Einzelnen zu anderen Individuen abzusehen. Im
Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig
der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und
als Gegner in Betracht und die Individualpsycho-
logie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig
Sozialpsychologie in diesem erweiterten, aber diu-ch-
aus berechtigten Sinne.
2 Massenpsychologie und Ich-Analyse
Das Verhältnis des Einzelnen zu seiilen Eltern
und Geschwistern, zu seinem Liebesobjekt und zu
seinem Arzt, also alle die Beziehungen, welche bis-
her vorzugsweise Gegenstand der psychoanalytischen
Untersuchung geworden sind, können den Anspruch
erheben, als soziale Phänomene gewürdigt zu wer-
den, und stellen sich dann in Gegensatz zu gewissen
anderen, von uns narzißtisch genannten Vor-
gängen, bei denen die Triebbefriedigung sich dem
Einfluß anderer Personen entzieht oder auf sie ver-
zichtet. Der Gegensatz zwischen sozialen und nar-
zißtischen — Bleuler würde vielleicht sagen:
autistischen — seelischen Akten fällt also
durchaus innerhalb des Bereichs der Individual-
psychologie und eignet sich nicht dazu, sie von
einer Sozial- oder Massenpsychologie abzutrennen.
In den erwähnten Verhältnissen zu Eltern und
Geschwistern, zur Geliebten, zum Freunde und zum
Arzt erfährt der Einzelne immer nur den Einfluß einer
einzigen oder einer sehr geringen Anzahl von Per-
sonen, von denen eine jede eine großartige Bedeu-
tung für ihn erworben hat. Man hat sich nun ge-
wöhnt, wenn man von Sozial- oder Massenpsycho-
logie spricht, von diesen Beziehungen abzusehen
und die gleichzeitige Beeinflussung des Einzelnen
I. Einleitung 3
durch eine große Anzahl von Personen, mit denen
er durch irgend etwas verbunden ist, während sie
ihm sonst in vielen Hinsichten fremd sein mögen,
als Gegenstand der Untersuchung abzusondern.
Die Massenpsychologie behandelt also den einzelnen
Menschen als Mitglied eines Stammes, eines Volkes,
einer Kaste, eines Standes, einer Institution oder als
Bestandteil eines Menschenhaufens, der sich zu einer
gewissen Zeit für einen bestimmten Zweck zur
Masse organisiert. Nach dieser Zerreißung eines
natürlichen Zusammenhanges lag es dann nahe, die
Erscheinungen, die sich unter diesen besonderen Be-
dingungen zeigen, als Äußerungen eines besonderen,
weiter nicht zurückführbaren Triebes anzusehen, des
sozialen Triebes — herd instinct, group mind — der
in anderen Situationen nicht zum Ausdruck kommt.
Wir dürfen aber wohl den Einwand erheben, es
falle uns schwer, dem Moment der Zahl eine so
große Bedeutung einzuräumen, daß es ihm allein
möglich sein sollte, im menschlichen Seelenleben
einen neuen und sonst nicht betätigten Trieb zu
wecken. Unsere Erwartung wird somit auf zwei
andere Möglichkeiten hingelenkt: daß der soziale
Trieb kein ursprünglicher und unzerlegbarer sein
mag, und daß die Anfänge seiner Bildung in einem
4 Massenpsycholoste und Ich-Analyse
engeren Kreis wie etwa in dem der Familie gefunden
werden können.
Die Massenpsychologie, obwohl erst in ihren
Anfängen befindlich, umfaßt eine noch unüberseh-
bare Fülle . von Einzelproblemen und stellt dem
Untersucher ungezählte, derzeit noch nicht einmal
gut gesonderte Aufgaben. Die bloße Gruppierung
der verschiedenen Formen von Massenbildung und
die Beschreibung der von ihnen geäußerten psy-
chischen Phänomene erfordern einen großen Auf-
wand von Beobachtung und Darstellung und haben
bereits eine reichhaltige Literatur entstehen lassen.
Wer dies schmale Büchlein an dem Umfang der
Massenpsychologie mißt, wird ohneweiters ver-
muten dürfen, daß hier nur wenige Punkte des
ganzen Stoffes behandelt werden sollen. Es werden
wirklich auch nur einige Fragen sein, an denen die
Tiefenforschung der Psychoanalyse ein besonderes
Interesse nimmt.
IL
Le Bon's Schilderung der Massenseele.
Zweckmäßiger als eine Definition voranzu-
stellen scheint es, mit einem Hinweis auf das Er-
scheinungsgebiet zu beginnen und aus diesem einige
besonders auffällige und charakteristische Tatsachen
herauszugreifen, an welche die Untersuchung an-
knüpfen kann. Wir erreichen beides durch einen
Auszug aus dem mit Recht berühmt gewordenen
Buch von Le Bon, Psychologie der
Massen *.
Machen wir uns den Sachverhalt nochmals klar:
Wenn die Psychologie, welche die Anlagen, Trieb-
regungen, Motive, Absichten eines einzelnen Men-
schen bis zu seinen Handlungen und in die Bezie-
hungen zu seinen Nächsten verfolgt, ihre Aufgabe
restlos gelöst und alle diese Zusammenhänge durch-
sichtig gemacht hätte, dann fände sie sich plötzUch
♦ ÜbejTsetzt von Dr. Rudolf Eisler, zweite Atiiflage 1912.
\
6 Massenpsychclogie und Ich-Analyse
vor einer neuen Aufgabe, die sich ungelöst vor ihr
erhebt. Sie müßte die überraschende Tatsache er-
klären, daß dies ihr verständlich gewordene Indi-
viduum unter einer bestimmten Bedingung ganz an-
ders fühlt, denkt und handelt, als von ihm zu er-
warten stand, und diese Bedingung ist die Einrei-
hung in eine Menschenmenge, welche die Eigen-
schaft einer „psychologischen Masse" erworben hat.
Was ist nun eine „Masse", wodurch erwirbt sie die
Fähigkeit, das Seelenleben des Einzelnen so ent-
scheidend zu beeinflussen, und worin besteht die
seelische Veränderung, die sie dem Einzelnen auf-
nötigt?
Diese drei Fragen zu beantworten, ist die Auf-
gabe einer theoretischen Massenpsychologie. Man
greift sie offenbar am besten an, wenn man von der
dritten ausgeht. Es ist die Beobachtung der ver-
änderten Reaktion des Einzelnen, welche der Massen-
psychologie den Stoff liefert; jedem Erklärungsver-
such muß ja die Beschreibung des zu Erklärenden
vorausgehen.
Ich lasse nun Le Bon zu Worte kommen.
Er sagt (S. 13): „An einer psychologischen Masse
ist das Sonderbarste dies: welcher Art auch die sie
zusammensetzenden Individuen sein mögen, wie ahn-
IL Lt Bon's SchiWerung der Massenseele 7
lieh oder unähnlich ihre Lebensweise, Beschäftigung,
ihr Charakter oder ihre Intelligenz ist, durch den
bloßen Umstand ihrer Umformung zur Masse be-
sitzen sie eine Kollektivseele, vermöge deren sie in
ganz anderer Weise fühlen, denken und handeln,
als jedes von ihnen für sich fühlen, denken und han-
deln würde. Es gibt Ideen und Gefühle, die nur
bei den zu Massen verbundenen Individuen auf-
treten oder sich in Handlungen umsetzen. Die psy-
chologische Masse ist ein provisorisches Wesen, das
aus heterogenen Elementen besteht, die für einen
Augenblick sich miteinander verbunden haben,
genau so wie die Zellen des Organismus durch ihre
Vereinigung ein neues Wesen mit ganz anderen
Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen bilden."
Indem wir uns die Freiheit nehmen, die Dar-
stellung L e B o n's durch unsere Glossen zu unter-
brechen, geben wir hier der Bemerkung Raum:
Wenn die Individuen in der Masse zu einer Einheit
verbunden sind, so muß es wohl etwas geben, was
sie an einander bindet, und dies Bindemittel könnte
gerade das sein, was für die Masse charakteristisch
ist. Allein L e B o n beantwortet diese Frage nicht,
er geht auf die Veränderung des Individuums in der
Masse ein und beschreibt sie in Ausdrücken, welche
8 Mass€inpsycholosie und Ich-iAnalyse «
mit den Grundvoraussetzungen unserer Tiefen-
psychologie in guter Übereinstimmung stehen,
(S. 14.) ;,Leicht ist die Feststellung des Maßes
von Verschiedenheit des einer Masse angehörenden
vom isolierten Individuum, weniger leicht ist aber
die Entdeckung der Ursachen dieser Verschiedenheit.
Um diese Ursachen wenigstens einigermaßen
zu finden, muß man sich zunächst der von der
modernen Psychologie gemachten Feststellung er-
innern, daß nicht bloß im organischen Leben, son-
dern auch in den intellektuellen Funktionen die un-
bewußten Phänomene eine überwiegende Rolle spie-
len. Das bewußte Geistesleben stellt nur einen recht
geringen Teil neben dem unbewußten Seelenleben
dar. Die feinste Analyse, die schärfste Beobachtung
gelangt nur zu einer kleinen Anzahl bewußter
Motive des Seelenlebens. Unsere bewußten Akte
leiten sich aus einem, besonders durch Vererbungs-
einflüsse geschaffenen, unbewußten Substrat her.
Dieses enthält die zahllosen Ahnenspuren, aus denen
sich die Rassenseele konstituiert. Hinter den ein-
gestandenen Motiven unserer Handlungen gibt es
zweifellos die geheimen Gründe, die wir nicht ein-
gestehen, hinter diesen liegen aber noch geheimere,
II. Le Boa*s Schlklenmg der Massenseele 9
die wir nicht einmal kennen. Die Mehrzahl unserer
alltäglichen Handlungen ist nur die Wirkung ver-
borgener, uns entgehender Motive."
In der Masse, meint L e Bon, verwischen sich
die individuellen Erwerbungen der Einzelnen, und
damit verschwindet deren Eigenart. Das rassen-
mäßige Unbewußte tritt hervor, das Heterogene ver-
sinkt im Homogenen. Wir werden sagen, der psy-
chische Oberbaii, der sich bei den Einzelnen so ver-
schiedenartig entwickelt hat, wird abgetragen, und
das bei allen gleichartige unbewußte Fundament
wird bloßgelegt.
Auf diese Weise käme ein durchschnittlicher
Charakter der Massenindividuen zustande. Allein
L e B o n findet, sie zeigen auch neue Eigenschaften,
die sie vorher nicht besessen haben, und sucht den
Grund dafür in drei verschiedenen Momenten.
(S. 15.) „Die erste dieser Ursachen besteht darin,
daß das Individuum in der Masse schon durch die
Tatsache der Menge ein Gefühl unüberwindlicher
Macht erlangt, welches ihm gestattet. Trieben zu
fröhnen, die es allein notwendig gezügelt hätte. Es
wird dies nun umso weniger Anlaß haben, als bei
der Anonymität und demnach auch Unverantwort-
10 Massenpsyohologie und Ich-Analyse
lichkeit der Masse das Verantwortlichkeitsgefühl,
welches die Individuen stets zurückhält, völlig
schwindet."
«
Wir brauchten von unserem Standpunkt we-
niger Wert auf das Auftauchen neuer Eigenschaften
zu legen. Es genügte uns zu sagen, das Individuum
komme in der Masse unter Bedingungen, die ihm
gestatten, die Verdrängungen seiner unbewußten
Triebregungen abzuwerfen. Die anscheinend neuen
Eigenschaften, die es dann zeigt, sind eben die
Äußerungen dieses Unbewußten, in dem ja alles
Böse der Menschenseele in der Anlage enthalten ist;
das Schwinden des Gewissens oder Verantwortlich-
keitsgefühls unter diesen Umständen macht unserem
Verständnis keine Schwierigkeit. Wir hatten längst
behauptet, der Kern des sogenannten Gewissens sei
„soziale Angst".
Eine gewisse Differenz zwischen der Anschauung
Le Bon's und der unserigen stellt sich dadurch her,
daß sein Begriff des Unbewußten nicht ganz mit dem
von der Psychoanalyse angenommenen zusammenfällt.
Das Unbewußte L e B o n's enthält vor allem die tiefsten
Merkmale der Rassenseele, welche für die Psychoanalyse
eigentlich außer Betracht kommt. Wir verkennen zwar
nicht, daß der Kern des Ichs, dem die „archaische Erb-
schaft" der Menschenseele angehört, imbewußt ist, aber
wir sondern außerdem das „unbewußte Verdrängte" ab,
II. Le Boii*s Schildemns der Massenseele 11
welches aus einem Anteil dieser Erbschaft hervorgegan-
gen ist. Dieser Begriff des Verdrängten fehlt bei L e B o n.
(S. 16.) „Eine zweite Ursache, die Ansteckung,
trägt ebenso dazu bei, bei den Massen die Äußerung
spezieller Merkmale und zugleich deren Richtung zu
bewerkstelligen. Die Ansteckung ist ein leicht zu kon-
statierendes aber unerklärliches Phänomen, das man
den von uns sogleich zu studierenden Phänomenen
hypnotischer Art zurechnen muß. In der Menge ist
jedes Gefühl, jede Handlung ansteckend, und zwar
in so hohem Grade, daß das Individuum sehr leicht
sein persönliches Interesse dem Gesamtinteresse
opfert. Es ist dies eine seiner Natur durchaus ent-
gegengesetzte Fähigkeit, deren der Mensch nur als
Massenbestandteil fähig ist.^'
Wir werden auf diesen letzten Satz später eine
wichtige Vermutung begründen.
(S. 16.) „Eine dritte, und zwar die wichtigste
Ursache bedingt in den zur Masse vereinigten In-
dividuen besondere Eigenschaften, welche denen des
isolierten Individuums völlig entgegengesetzt sind.
Ich rede hier von der Suggestibilität, von der die
erwähnte Ansteckung übrigens nur eine Wirkung ist.
Zum Verständnis dieser Erscheinung gehört die
Vergegenwärtigung gewisser neuer Entdeckungen
12 Massenpsychologie und IchnAnalyse
der Physiologie. Wir wissen jetzt, daß ein Mensch
mittels mannigfacher Prozeduren in einen solchen
Zustand versetzt werden kann, daß er nach Verlust
seiner ganzen bewußten Persönlichkeit allen Sug-
gestionen desjenigen gehorcht, der ihn seines Per-
sönlichkeitsbewußtseins beraubt hat, und daß er die
zu seinem Charakter und seinen Gewohnheiten in
schärfstem Gegensatz stehenden Handlungen begeht.
Nun scheinen sehr sorgfältige Beobachtungen dar-
zutun, daß ein eine Zeitlang im Schöße einer tätigen
Masse eingebettetes Individuum in Bälde — durch
Ausströmungen, die von ihr ausgehen oder sonst
eine unbekannte Ursache — in einem Sonderzustand
sich befindet, der sich sehr der Faszination nähert,
die den Hypnotisierten unter dem Einfluß des Hyp-
notisators befällt Die bewußte Persönlichkeit
ist völlig geschwunden, Wille und Unterscheidungs-
vermögen fehlen, alle Gefühle und Gedanken sind
nach der durch den Hypnotisator hergestellten Rich-
tung orientiert.
So ungefähr verhält sich auch der Zustand des
einer psychologischen Masse angehörenden Indi-
viduums. Es ist sich seiner Handlungen nicht mehr
bewußt. Wie beim Hypnotisierten können bei ihm,
während zugleich gewisse Fähigkeiten aufgehoben
II. Le Bon's Schild^nimg der Massenseete 13
sind, andere auf einen Grad höchster Stärke gebracht
werden. Unter dem Einflüsse einer Suggestion wird
es sich mit einem unwiderstehlichen Triebe an die
«
Ausführung bestimmter Handlungen machen. Und
dieses Ungestüm ist bei den Massen noch unwider-
stehlicher als beim Hypnotisierten, weil die für alle
Individuen gleiche Suggestion durch Gegenseitigkeit
anwächst."
(S. 17.) „Die Hauptmerkmale des in der Masse
befindlichen Individuums sind demnach: Schwund
der bewußten Persönlichkeit, Vorherrschaft der un-
bewußten Persönlichkeit, Orientierung der Gedanken
und Gefühle in derselben Richtung durch Suggestion
und Ansteckung, Tendenz zur unverzüglichen Ver-
wirklichung der suggerierten Ideen. Das Individuum
ist nicht mehr es selbst, es ist ein willenloser Auto-
mat geworden."
Ich habe dies Zitat so ausführiich wiedergege-
ben, um zu bekräftigen, daß L e B o n den Zustand
des Individuums in der Masse wirklich für einen
hypnotischen erklärt, nicht etwa ihn bloß mit einem
solchen vergleicht. Wir beabsichtigen hier keinen
Widerspruch, wollen nur hervorheben, daß die bei-
den letzten Ursachen der Veränderung des Einzel-
nen in der Masse, die Ansteckung und die höhere
14 MassMpsychologie und Ich-Analyse
Suggerierbarkeit offenbar nicht gleichartig sind, da
ja die Ansteckung auch eine Äußerung der Sugge-
rierbarkeit sein soll. Auch die Wirkungen der bei-
den Momente scheinen uns im Text Le Bon's
nicht scharf geschieden. Vielleicht deuten wir seine
Äußerung am besten aus, wenn wir die Ansteckung
auf die Wirkung der einzelnen Mitglieder der Masse
aufeinander beziehen, während die mit den Phäno-
menen der hypnotischen Beeinflussung gleichgestell-
ten Suggestionserscheinungen in der Masse auf eine
andere Quelle hinweisen. Auf welche aber? Es muß
uns als eine empfindliche UnvoUständigkeit berüh-
ren, daß eines der Hauptstücke dieser Angleichung,
nämlich die Person, welche für die Masse den Hyp-
notiseur ersetzt, in der Darstellung L e B o n's nicht
erwähnt wird. Immerhin unterscheidet er von die-
sem im Dunkeln gelassenen faszinierenden Einfluß
die ansteckende Wirkung, die die Einzelnen auf
einander ausüben, durch welche die ursprüngliche
Suggestion verstärkt wird.
Noch ein wichtiger Gesichtspunkt für die Be-
urteilung des Massenindividuums: (S. 17.) „Ferner
steigt durch die bloße Zugehörigkeit zu einer or-
ganisierten Masse der Mensch mehrere Stufen auf
der Leiter der Zivilisation herab. In seiner Verein-
IL Le Bon's Schildemng der Massenseete 15
zelung war er vielleicht ein gebildetes Individuum,
in der Masse ist er ein Barbar, d. h. ein Triebwesen.
Er besitzt die Spontaneität, die Heftigkeit, die Wild-
heit und auch den Enthusiasmus und Heroismus
primitiver Wesen." Er verweilt dann noch besonders
bei der Herabsetzung der intellektuellen Leistung,
die der Einzelne durch sein Aufgehen in der Masse
erfährt*.
Verlassen wir nun den Einzelnen und wenden
wir uns zur Beschreibung der Massenseele, wie L e
B o n sie entwirft. Es ist kein Zug darin, dessen Ab-
leitung und Unterbringung dem Psychoanalytiker
Schwierigkeiten bereiten würde. L e B o n weist uns
selbst den Weg, indem er auf die Übereinstimmung
mit dem Seelenleben der Primitiven und der Kinder
hinweist. (S. 19.)
Die Masse ist impulsiv, wandelbar und reizbar.
Sie wird fast ausschließUch vom Unbewußten ge-
leitet * * . Die Impulse, denen die Masse gehorcht, kön-
nen je nach Umständen edel oder grausam, heroisch
oder feige sein, jedenfalls aber sind sie so gebie-
*
* Vergleiche das Schiller'sche Distichon:
Jeder, sieht man ihn einzeln, ist leidlich klug und verständig;
Sind sie in corpore, gleich wird euch ein Dummkopf daraus.
** Unbewußt wird von Le Bon richtig im Smn-e der Deskrip-
tion gebraucht, wo es nicht allein das „Verdrängte" bedeutet.
2«
16 Massenpsydiologle und Ich-Analyse
terisch, daß nicht das persönliche, nicht einmal das
Interesse der Selbsterhaltung zur Geltung kommt.
(S. 20.) Nichts ist bei ihr vorbedacht. Wenn sie auch
die Dinge leidenschaftlich begehrt, so doch nie für
lange, sie ist unfähig zu einem Dauerwillen. Sie ver-
trägt keinen Aufschub zwischen ihrem Begehren
und der Verwirklichung des Begehrten. Sie hat das
Gefühl der Allmacht, für das Individuum in der
Masse schwindet der Begriff des Unmöglichen*.
Die Masse ist außerordentlich beeinflußbar und
leichtgläubig, sie ist kritiklos, das Unwahrscheinliche
existiert für sie nicht. Sie denkt in Bildern, die einan-
der assoziativ hervorrufen, wie sie sich beim Einzel-
nen in Zuständen des freien Phantasierens einstellen,
und die von keiner verständigen Instanz an der Über-
einstimmung mit der Wirklichkeit gemessen werden.
Die Gefühle der Masse sind stets sehr einfach und
sehr überschwenglich. Die Masse kennt also weder
Zweifel noch Ungewißheit.
In der Deutung der Träume, denen wir ja unsere
beste Kenntnis vom unbewußten Seelenleben verdanken,
befolgen wir die technische Regel, daß von Zweifel und
Unsicherheit in der Traumerzählung abgesehen und jedes
Element des manifesten Traumes als gleich gesichert
* Vergleiche Totem und Tabu III., Animlsmus, Ma«ie und
Alhnacht d«r Gedanken.
II. Le Bon*s Schilderung der Massenseele 17
behandelt wird. Wir Riten Zweifel und Unsicherheit von
der Einwirkung der Zensur ab, welcher die Traumarbeit
unterliegt, und nehmen an, daß die primären Traum-
gedanken Zweifel und Unsicherheit als kritische Leistung
nicht kennen. Als Inhalte mögen sie natürlich, wie alles
andere, in den zum Traum führenden Tagesresten vor-
kommen. (S. Traumdeutung. 5. Aufl. 1919, S. 386.)
Sie geht sofort zum Äußersten, der ausgespro-
chene Verdacht wandelt sich bei ihr sogleich in un-
umstößliche Gewißheit, ein Keim von Antipathie wird
zum wilden Haß. (S. 32.)
Die nämliche Steigerung aller Qefühlsregungen zum
Extremen und Maßlosen gehört auch der Affektivität des
Kindes an und findet sich im Traumleben wieder, wo
dank der im Unbewußten vorherrschenden Isolierung der
einzelnen Qefühlsregungen ein leiser Arger vom Tage
sich als Todeswunsch gegen die schuldige Person zum
Ausdruck bringt oder ein Anflug irgend einer Ver-
suchung zum Anstoß einer im Traum dargestellten ver-
brecherischen Handlung wird. Zu dieser Tatsache hat
Dr. Hanns Sachs die hübsche Bemerkung gemacht: „Was
der Traum uns an Beziehungen zur Qegenwart (Realität)
kundgetan hat, wollen wir dann auch im Bewußtsein
aufsuchen und dürfen uns nicht wundern, wenn wir das
Ungeheuer, das wir unter dem Vergrößerungsglas der
Analyse gesehen haben, als Infusionstierchen wieder-
finden." (Traumdeutung, S. 457.)
Selbst zu allen Extremen geneigt, wird die Masse
auch nur durch übermäßige Reize erregt. Wer auf sie
18 Massenpsycholosie und Ich-Analyse
wirken will, bedarf keiner logischen Abmessung
seiner Argumente, er muß in den kräftigsten Bildern
malen, übertreiben und immer das Gleiche wieder-
holen.
Da die Masse betreffs des Wahren oder Falschen
nicht im Zweifel ist und dabei das Bewußtsein ihrer
großen Kraft hat, ist sie ebenso intolerant wie auto-
ritätsgläubig. Sie respektiert die Kraft und läßt sich
von der Güte, die für sie nur eine Art von Schwäche
bedeutet, nur mäßig beeinflussen. Was sie von ihren
Helden verlangt, ist Stärke, selbst Gewalttätigkeit.
Sie will beherrscht und unterdrückt werden und
ihren Herrn fürchten. Im Grunde durchaus konser-
vativ hat sie tiefen Abscheu vor allen Neuerungen
und Fortschritten und unbegrenzte Ehrfurcht vor der
Tradition. (S. 37.)
Um die Sitthchkeit der Massen richtig zu be-
urteilen, muß man in Betracht ziehen, daß im Bei-
sammensein der Massenindividuen alle individuellen
Hemmungen entfallen und alle grausamen, brutalen,
destruktiven Instinkte, die als Überbleibsel der Urzeit
im Einzelnen schlummern, zur freien Triebbefriedi-
gung geweckt werden. Aber die Massen sind auch
unter dem Einfluß der Suggestion hoher Leistungen
von Entsagung, Uneigennützigkeit, Hingebung an
II. Le Bon's Schilderung der Massenseele 19
ein Ideal fähig. Während der persönliche Vorteil beim
isolierten Individuum so ziemlich die einzige Trieb-
feder ist, ist er bei den Massen sehr selten vorherr-
schend. Man kann von einer Versittlichung des Ein-
zelnen durch die Masse sprechen. (S. 39.) Während
die intellektuelle Leistung der Masse immer tief unter
der des Einzelnen steht, kann ihr ethisches Verhalten
dies Niveau ebenso hoch überragen wie tief darunter
herabgehen.
Ein helles Licht auf die Berechtigung, die Mas-
senseele mit der Seele der Primitiven zu identifizie-
ren, werfen einige andere Züge der L e B o naschen
Charakteristik. Bei den Massen können die entgegen-
gesetztesten Ideen nebeneinander bestehen und sich
miteinander vertragen, ohne daß sich aus deren
logischem Widerspruch ein Konflikt ergäbe. Dasselbe
ist aber im unbewußten Seelenleben der Einzelnen,
der Kinder und der Neurotiker der Fall, wie die
Psychoanalyse längst nachgewiesen hat.
Beim kleinen Kinde bestehen z. B. ambivalente
Qefühlseinstellungen gegen die ihm nächsten Personen
lange Zeit nebeneinander, ohne daß die eine die ihr ent-
gegengesetzte in ihrem Ausdruck stört. Kommt es dann
endlich zum Konflikt zwischen den beiden, so wird er
oft dadurch erledigt, daß das Kind das Objekt wechselt,
die eine der ambivalenten Regungen auf ein Ersatzobjekt
20 ' Massenpsychologle und Ich-AoaJyse
verschiebt. Auch aus der Entwicklungsgeschichte einer
Neurose beim Erwachsenen kann man erfahren, daß eine
unterdrückte Regung sich häufig lange Zeit in unbewußten
oder selbst bewußten Phantasien fortsetzt, deren Inhalt
natürlich einer herrschenden Strebung direkt zuwider-
läuft, ohne daß sich aus diesem Gegensatz ein Einschreiten
des Ichs gegen das von ihm Verworfene ergäbe. Die Phan-
tasie wird eine ganze Weile über toleriert, bis sich plötz-
lich einmal, gewöhnlich infolge einer Steigerung der affek-
tiven Besetzung derselben, der Konflikt zwischen ihr und
dem Ich mit allen seinen Folgen herstellt.
Im Fortschritt der Entwicklung vom Kinde zum
reifen Erwachsenen kommt es überhaupt zu einer immer
weiter greifenden Integration der Persönlichkeit, zu
einer Zusammenfassung der einzelnen unabhängig von-
einander in ihr gewachsenen Triebregungen und Ziel-
strebungen. Der analoge Vorgang auf dem Gebiet des
Sexuallebens ist uns als Zusammenfassung aller Sexual-
triebe zur definitiven Genitalorganisation lange bekannt
(Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie 1905). Daß die Ver-
einheitlichung des Ichs übrigens dieselben Störungen er-
fahren kann wie die der Libido, zeigen vielfache, sehr
bekannte Beispiele, wie das der Naturforscher, die bibel-
gläubig geblieben sind u. a.
Ferner unterliegt die Masse der wahrhaft ma-
gischen Macht von Worten, die in der Massenseele
die furchtbarsten Stürme hervorrufen und sie auch
besänftigen können. (S. 74.) „Mit Vernunft und Ar-
gumenten kann man gegen gewisse Worte und For-
meln nicht ankämpfen. Man spricht sie mit Andacht
n. Le Bon*s Schiidenins der Massenseele 21
vor den Massen aus, und sogleich werden die Mienen
respektvoll und die Köpfe neigen sich. Von vielen
werden sie als Naturkräfte oder als tibematürliche
Mächte betrachtet." (S. 75.) Man braucht sich dabei
nur an die Tabu der Namen bei den Primitiven, an
die magischen Kräfte, die sich ihnen an Namen und
Worte knüpfen, zu erinnern*.
Und endlich: Die Massen haben nie den Wahr-
heitsdurst gekannt. Sie fordern Illusionen, auf die
sie nicht verzichten können. Das Irreale hat bei ihnen
stets den Vorrang vor dem Realen, das Unwirkliche
beeinflußt sie fast ebenso stark wie das Wirkliche.
Sie haben die sichtliche Tendenz, zwischen beiden
keinen Unterschied zu machen. (S. 47.)
Diese Vorherrschaft des Phantasielebens und
der vom unerfüllten Wunsch getragenen Illusion
haben wir als bestimmend für die Psychologie der
Neurosen aufgezeigt. Wir fanden, für die Neurotiker
gelte nicht die gemeine objektive, sondern die psy-
chische Realität. Ein hysterisches Symptom gründe
sich auf Phantasie anstatt auf die Wiederholung
wirklichen Erlebens, ein zwangsneurotisches Schuld-
bewußtsein auf die Tatsache eines bösen Vorsatzes,
• Sieii« ToteiD und Tabu.
22 Massenpsycholosie und Ich-Analyse
der nie zur Ausführung gekommen. Ja wie im Traum
und in der Hypnose, tritt in der Seelentätigkeit der
Masse die Realitätsprüfung zurück gegen die Stärke
der affektiv besetzten Wunschregungen.
Was L e B o n über die Führer der Massen sagt,
ist weniger erschöpfend und läßt das Gesetzmäßige
nicht so deutlich durchschimmern. Er meint, sobald
lebende Wesen in einer gewissen Anzahl vereinigt
sind, einerlei ob eine Herde Tiere oder eine Men-
schenmenge, stellen sie sich instinktiv unter die Auto-
rität eines Oberhauptes. (S. 86.) Die Masse ist eine
folgsame Herde, die nie ohne Herrn zu leben ver-
mag. Sie hat einen solchen Durst zu gehorchen, daß
sie sich jedem, der sich zu ihrem Herrn ernennt, in-
stinktiv unterordnet.
Kommt so das Bedürfnis der Masse dem Führer
entgegen, so muß er ihm doch durch persönliche
Eigenschaften entsprechen. Er muß selbst durch
einen starken Glauben (an eine Idee) fasziniert sein,
um Glauben in der Masse zu erwecken, er muß
einen starken, imponierenden Willen besitzen, den
die willenlose Masse von ihm annimmt. Le Bon
bespricht dann die verschiedenen Arten von Füh-
rern und die Mittel, durch welche sie auf die Masse
II. Le Bon*s Schildenmg der Massenseele 23
wirken. Im ganzen läßt er die Führer durch die
Ideen zur Bedeutung kommen, für die sie selbst
fanatisiert sind.
Diesen Ideen wie den Führern schreibt er über-
dies eine geheimnisvolle unwiderstehliche Macht zu,
die er „Prestige" benennt. Das Prestige ist eine Art
Herrschaft, die ein Individuum, ein Werk oder eine
Idee über uns übt. Sie lähmt all unsere Fähigkeit
zur Kritik und erfüllt uns mit Staunen und Achtung.
Sie dürfte ein Gefühl hervorrufen, ähnlich wie das
der Faszination der Hypnose. (S. 96.) .
Er unterscheidet erworbenes oder künstliches
und persönliches Prestige. Das erstere wird
bei Personen durch Name, Reichtum, Ansehen ver-
liehen, bei Anschauungen, Kunstwerken u. dgl.
durch Tradition. Da es in allen Fällen auf die Ver-
gangenheit zurückgreift, wird es für das Verständ-
nis dieses rätselhaften Einflusses wenig leisten. Das
persönliche Prestige haftet an wenigen Personen, die
durch dasselbe zu Führern werden, und macht, daß
ihnen alles wie unter der Wirkung eines magnetischen
Zaubers gehorcht. Doch ist jedes Prestige auch vom
Erfolg abhängig und geht durch Mißerfolge ver-
loren. (S. 105.)
24 Masseopsychobgie und Ich-Analyse
Man gewinnt nicht den Eindruck, daß bei L e
Bon die Rolle der Führer und die Betonung des
Prestige in richtigen Einklang mit der so glänzend
vorgetragenen Schilderung der Massenseele ge-
bracht worden ist.
III.
Andere Wördigmigen des kollektiven Seelenlebens.
Wir haben uns der Darstellung von L e B o n
als Einführung bedient, weil sie in der Betonung
des unbewußten Seelenlebens so sehr mit unserer
eigenen Psychologie zusammentrifft. Nun müssen
wir aber hinzufügen, daß eigentlich keine der Be-
hauptungen dieses Autors etwas Neues bringt.
Alles was er Abträgliches und Herabsetzendes über
die Äußerungen der Massenseele sagt, ist schon vor
ihm ebenso bestimmt und ebenso feindselig von
anderen gesagt worden, wird seit den ältesten Zei-
ten der Literatur von Denkern, Staatsmännern und
Dichtern gleichlautend so wiederholt*. Die beiden
Sätze, welche die wichtigsten Ansichten L e B o n's
enthalten, der von der kollektiven Hemmung der
intellektuellen Leistung und der von der Steigerung
• Vergleiche den Text und das Literaturverzeichnis in
B. KraSkovIC jun.. Die Psychologie der Kollektivitäten. Aus dem
Kroatischen übersetzt von Sie gm und von Posavec
Vukovar 1915.
26 Massenpsychologie und Ich-Analyse
der Affektivität in der Masse waren kurz vorher
von Sighele formuliert worden*. Im Gründe er-
übrigen als Le Bon eigentümlich nur die beiden
Gesichtspunkte des Unbewußten und des Vergleichs
mit dem Seelenleben der Primitiven, auch diese
natürlich oftmals vor ihm berührt.
Aber noch mehr, die Beschreibung und Wür-
digung der Massenseele, wie Le Bon und die
anderen sie geben, ist auch keineswegs unangefoch-
ten geblieben. Kein Zweifel, daß alle die vorhin be-
schriebenen Phänomene der Massenseele richtig be-
obachtet worden sind, aber es lassen sich auch
andere, geradezu entgegengesetzt wirkende Äuße-
rungen der Massenbildung erkennen, aus denen man
dann eine weit höhere Einschätzung der Massen-
seele ableiten muß.
Auch Le Bon war bereit zuzugestehen, daß
die ' Sittlichkeit der Masse unter Umständen höher
sein kann als die der sie zusammensetzenden Ein-
zelnen, und daß nur die Gesamtheiten hoher Un-
eigennützigkeit und Hingebung fähig sind.
(S. 38.) „Während der persönliche Vorteil beim
* Siehe Walter Moed«, Die Massen- und Sozialpsychologie
im kritischen Überbliclc. Zeitschrift für pädagogische Psychologie
und experimentelle Pädagogik von Meumann und Scfieibner,
XVI.. 1915.
III. Ander« Wüixli«imgein des kollektiven Seetenlebens 27
isolierten Individuum so ziemlich die einzige Trieb-
feder ist, ist er bei den Massen sehr selten vorherr-
schend."
Andere machen geltend, daß es überhaupt
erst die Gesellschaft ist, welche dem Einzelnen die
Normen der Sittlichkeit vorschreibt, während der
Einzelne in der Regel irgendwie hinter diesen hohen
Ansprüchen zurückbleibt. Oder, daß in Ausnahms-
zuständen in einer Kollektivität das Phänomen der
Begeisterung zustande kommt, welches die groß-
artigsten Massenleistungen ermöglicht hat.
In Betreff der intellektuellen Leistung bleibt
zwar bestehen, daß die großen Entscheidungen der
Denkarbeit, die folgenschweren Entdeckungen und
Problemlösungen nur dem Einzelnen, der in der
Einsamkeit arbeitet, möglich sind. Aber auch die
Massenseele ist genialer geistiger Schöpfungen
fähig, wie vor allem die Sprache selbst beweist, so-
dann das Volkslied, Folklore und anderes. Und über-
dies bleibt es dahingestellt, wieviel der einzelne Den-
ker oder Dichter den Anregungen der Masse, in
welcher er lebt, verdankt, ob er mehr als der Voll-
ender einer seelischen Arbeit ist, an der gleichzeitig
die anderen mitgetan haben.
Angesichts dieser vollkommenen Widersprüche
28 Massenpsycholosie und Ich-Analyse
scheint es ja, daß die Arbeit der Massenpsychologie
ergebnislos verlaufen müsse. Allein es ist leicht,
einen hoffnungsvolleren Ausweg zu finden. Man
hat wahrscheinlich als „Massen" sehr verschiedene
Bildungen zusammengefaßt, die einer Sonderung
bedürfen. • Die Angaben von Sighele, LeBon
und anderen beziehen sich auf Massen kurzlebiger
Art, die rasch durch ein vorübergehendes Interesse
aus verschiedenartigen Individuen zusammengeballt
werden. Es ist unverkennbar, daß die Charaktere
der revolutionären Massen, besonders der großen
französischen Revolution, ihre Schilderungen beein-
flußt haben. Die gegensätzlichen Behauptungen
stammen aus der Würdigung jener stabilen Massen
oder Vergesellschaftungen, in denen die Menschen
ihr Leben zubringen, die sich in den Institutionen
der Gesellschaft verkörpern. Die Massen der ersten
Art sind den letzteren gleichsam aufgesetzt, wie die
kurzen, aber hohen Wellen den langen Dünungen
der See.
M^ D o u g a 1 1, der in seinem Buch The
Group Mind* von dem nämlichen, oben er-
wähnten Widerspruch ausgeht, findet die Lösung
desselben im Moment der Organisation. Im einfach-
• Cambridge, 1920.
III. Andere Wündtennsen des kollektiven Seelenlebens 29
sten Falle, sagt er, besitzt die Masse (group) über-
haupt keine Organisation oder eine kaum nennens-
werte. Er ^bezeichnet eine solche Masse, als einen
Haufen (crowd). Doch gesteht er zu, daß ein
Haufen Menschen nicht leicht zusammenkommt,
ohne daß sich in ihm wenigstens die ersten
Anfänge einer Organisation bildeten, und daß
gerade an diesen einfachen Massen manche
Grundtatsachen der Kollektivpsychologie beson-
ders leicht zu erkennen sind. (S. 22.) Damit
sich aus den zufällig zusammengewehten Mit-
gliedern eines Menschenhaufens etwas wie eine
Masse im psychologischen Sinne bilde, wird
als Bedingung erfordert, daß diese Einzelnen etwas
miteinander gemein haben, ein gemeinsames Inter-
esse an einem Objekt, eine gleichartige Gefühlsrich-
tung in einer gewissen Situation und (ich würde ein-
setzen: infolgedessen) ein gewisses Maß von Fähig-
keit sich untereinander zu beeinflussen. (Some degree
of reciprocal influence between the members of the
group) (S. 23.) Je stärker diese Gemeinsamkeiten
(this mental homogeneity) sind, desto leichter bildet
sich aus den Einzelnen eine psychologische Masse
und desto auffälliger äußern sich die Kundgebungen
einer Massenseele.
30 Masseni^sydiolosie tmd Ich^naiyse
Das merkwürdigste und zugleich wichtigste
Phänomen der Massenbildung ist nun die bei jedem
Einzelnen hervorgerufene Steigerung der Affektivi-
tät (exaltation or intensification of emotion) (S. 24).
Man kann sagen, meint M^Dougall, daß die
Affekte der Menschen kaum unter anderen Bedin-
gungen zu solcher Höhe anwachsen, wie es in einer
Masse geschehen kann, und zwar ist es eine genuß-
reiche Empfindung für die Beteiligten, sich so
schrankenlos ihren Leidenschaften hinzugeben und
dabei in der Masse aufzugehen, das Gefühl ihrer
individuellen Abgrenzung zu verlieren. Dies Mit-
fortgerissen werden der Individuen erklärt M^ D o u-
gall aus dem von ihm so genannten „principle
of direct induction of emotion by way of the
primitive sympathetic response" (S. 25), d. h. durch
die uns bereits bekannte Gefühlsansteckung. Die
Tatsache ist die, daß die wahrgenommenen Zeichen
eines Affektzustandes geeignet sind, bei dem Wahr-
nehmenden automatisch denselben Affekt hervorzu-
rufen. Dieser automatische Zwang wird umso stär-
ker, an je mehr Personen gleichzeitig derselbe Affekt
bemerkbar ist. Dann schweigt die Kritik des Ein-
zelnen und er läßt sich in denselben Affekt gleiten.
Dabei erhöht er aber die Erregung der anderen, die
vk-
III. Andere Würdigjungen des kollektiven Seelenlebens 31
auf ihn gewirkt hatten, und so steigert sich die
Affektladung der Einzelnen durch gegenseitige In-
duktion. Es ist unverkennbar etwas wie ein Zwang
dabei wirksam, es den anderen gleichzutun, im Ein-
klang mit den Vielen zu bleiben. Die gröberen und
einfacheren Gefühlsregungen haben die größere
Aussicht, sich auf solche Weise in einer Masse zu
verbreiten. (S. 39.)
Dieser Mechanismus der Affektsteigerung wird
noch durch einige andere, von der Masse aus-
gehende Einflüsse begünstigt. Die Masse macht dem
Einzelnen den Eindruck einer unbeschränkten Macht
und einer unbesiegbaren Gefahr. Sie hat sich für
den Augenblick an die Stelle der gesamten mensch-
hchen Gesellschaft gesetzt, welche die Trägerin der
Autorität ist, deren Strafen man gefürchtet, der zu-
liebe man sich so viele Hemmungen auferlegt hat. Es
ist offenbar gefährlich, sich in Widerspruch mit ihr zu
setzen, und man ist sicher, wenn man dem rings-
umher sich zeigenden Beispiel folgt, also eventuell
sogar „mit den Wölfen heult". Im Gehorsam gegen
die neue Autorität darf man sein früheres „Gewissen"
außer Tätigkeit setzen und dabei der Lockung des
Lustgewinns nachgeben, den man sicherlich durch
die Aufhebung seiner" Hemmungen erzielt. Es ist
32 Masseiii>sycholoKie und Ich-Analyse
also im ganzen nicht so merkwürdig, wenn wir den
Einzelnen in der Masse Dinge tun oder gutheißen
sehen, von denen er sich in seinen gewohnten
Lebensbedingungen abgewendet hätte, und wir
können selbst die Hoffnung fassen, auf diese Weise
ein Stück der Dunkelheit zu lichten, die man mit dem
Rätselwort der „Suggestion" zu decken pflegt.
Dem Satz von der kollektiven Intelligenzhem-
mung in der Masse widerspricht auch M^Dougäll
nicht (S. 41). Er sagt, die geringeren Intelügenzen
ziehen die größeren auf ihr Niveau herab. Die letzte-
ren werden in ihrer Betätigung gehemmt, weil die
Steigerung der Affektivität überhaupt ungünstige Be-
dingungen für korrekte geistige Arbeit schafft, fer-
ner weil die Einzelnen durch die Masse eingeschüch-
tert sind und ihre Denkarbeit nicht frei ist, und weil
bei jedem Einzelnen das Bewußtsein der Verantwort-
lichkeit für seine Leistung herabgesetzt wird.
Das Gesamturteil über die psychische Leistung
einer einfachen, „unorganisierten" Masse lautet bei
M^ D o u g a 1 1 nicht freundlicher als bei L e B on.
Eine solche Masse ist (S. 45): überaus erregbar,
impulsiv, leidenschaftlich, wankelmütig, inkonse-
quent, unentschlossen und dabei zum äußersten
III. Andere Würdisun-sen des kollektiv«!! Seelenlebens 33
bereit in ihren Handlungen, zugänglich nur für die
gröberen Leidenschaften und einfacheren Gefühle,
außerordentlich suggestibel, leichtsinnig in ihren
Überlegungen, heftig in ihren Urteilen, aufnahms-
fähig nur für die einfachsten und unvollkommensten
Schlüsse und Argumente, leicht zu lenken und zu
erschüttern, ohne Selbstbewußtsein, Selbstachtung
und Verantwortlichkeitsgefühl, aber bereit, sich von
ihrem Kraftbewußtsein zu allen Untaten fortreißen
zu lassen, die wir nur von einer absoluten und tm-
verantwortlichen Macht erwarten können. Sie be-
nimmt sich also eher wie ein ungezogenes Kind oder
wie ein leidenschaftlicher, nicht beaufsichtigter
Wilder in einer ihm, fremden Situation; in den
schlimmsten Fällen ist ihr Benehmen eher das eines
Rudels von wilden Tieren als von menschlichen
Wesen.
Da M^ D o u g a 1 1 das Verhalten der hoch
organisierten Massen in Gegensatz zu dem hier
Geschilderten bringt, werden wir besonders ge-
spannt sein zu erfahren, worin diese Organisation
besteht und durch welche Momente sie hergestellt
wird. Der Autor zählt fünf dieser „principal condi-
tions" für die Hebung des seelischen Lebens der
Masse auf ein höheres Niveau auf.
34 Massenpsycfaok)£ie uikI Ich-Atialyse
Die erste, grundlegende Bedingung ist ein ge-
wisses Maß von Kontinuität im Bestand der Masse.
Diese kann eine materielle oder eine formale sein,
das erste, wenn dieselben Personen längere Zeit in
der Masse verbleiben, das andere, wenn innerhalb
der Masse bestimmte Stellungen entwickelt sind, die
den einander ablösenden Personen angewiesen
werden.
Die zweite, daß sich in dem Einzelnen der
Masse eine bestimmte Vorstellung von der Natur,
der Funktion, den Leistungen und Ansprüchen der
Masse gebildet hat, so daß sich daraus für ihn ein
Gefühlsverhältnis zum Ganzen der Masse ergeben
kann.
Die dritte, daß die Masse in Beziehung zu ande-
ren ihr ähnlichen, aber doch von ihr in vielen Punkten
abweichenden Massenbildungen gebracht wird,
etwa daß sie mit diesen rivalisiert.
Die vierte, daß die Masse Traditionen, Ge-
bräuche und Einrichtungen besitzt, besonders
solche, die sich auf das Verhältnis ihrer Mitglieder
zueinander beziehen.
Die fünfte, daß es in der Masse eine Gliederung
gibt, die sich in der Spezialisierung und Differenzie-
IIL Ander« Wfirdteiuicea des kollektiven Seelenlebens 35
rung der dem Einzelnen zufallenden Leistung aus-
drückt.
Durch die Erfüllung dieser Bedingungen wer-
den nach M^Dougall die psychischen Nach-
teile der Massenbildung aufgehoben. Gegen die
kollektive Herabsetzung der Intelligenzleistung
schützt man sich dadurch, daß man die Lösung der
intellektuellen Aufgaben der Masse entzieht und sie
Einzelnen in ihr vorbehält.
Es scheint uns, daß man die Bedingung, die
M ^ D o u g a 1 1 als „Organisation" der Masse be-
zeichnet hat, mit mehr Berechtigung anders be-
schreiben kann. Die Aufgabe besteht darin, der
Masse gerade jene Eigenschaften zu verschaffen,
die für das Individuum charakteristisch waren und
die bei ihm durch die Massenbildung ausgelöscht
wurden. Denn das Individuum hatte — außerhalb
der primitiven Masse — seine Kontinuität, sein
Selbstbewußtsein, seine Traditionen und Gewohn-
heiten, seine besondere Arbeitsleistung und Ein-
reihung und hielt sich von anderen gesondert, mit
denen es rivalisierte. Diese Eigenart hatte es durch
seinen Eintritt in die nicht „organisierte" Masse
für eine Zeit verloren. Erkennt man so als Ziel, die
Masse mit den Attributen des Individuums auszu-
36 Massenpsycholog:ie und Ich-Analyse
statten, so wird man an eine gehaltreiche Bemerkung
von W. Trotter* gemahnt, der in der Neigung
zur Massenbildung eine biologische Fortführung
der Vielzelligkeit aller höheren Organismen erblickt.
• Instincts of the berd in peace and war. London 1916.
IV.
Suggestion and Libido.
Wir sind von der Orundtatsache ausgegangen,
daß ein Einzelner innerhalb einer Masse durch den
Einfluß derselben eine oft tiefgreifende Veränderung
seiner seelischen Tätigkeit erfährt. Seine Affektivität
wird außerordentlich gesteigert, seine intellektuelle
Leistung merklich eingeschränkt, beide Vorgänge
offenbar in der Richtung einer Angleichung an die
anderen Massenindividuen; ein Erfolg, der nur
durch die Aufhebung der jedem .Einzelnen eigen-
tümlichen Triebhemmungen und durch den Verzicht
auf die ihm besonderen Ausgestaltungen seiner
Neigungen erreicht werden kann. Wir haben gehört,
daß diese oft unerwünschten Wirkungen durch eine
höhere „Organisation" der Massen wenigstens teil-
weise hintangehalten werden, aber der Grundtat-
sache der Massenpsychologie, den beiden Sätzen
von der Affektsteigerung und der Denkhemmung in
38 Massenpsydiologie und Ich-Analyse
der primitiven Masse ist dadurch nicht wider-
sprochen worden. Unser Interesse geht nun dahin,
für diese seelische Wandlung des Einzelnen in der
Masse die psychologische Erklärung zu finden.
■
Rationelle Momente wie die vorhin erwähnte
Einschüchterung des Einzelnen, also die Aktion sei-
nes Selbsterhaltungstriebes, decken offenbar die zu
beobachtenden Phänomene nicht. Was uns sonst
als Erklärung von den Autoren über Soziologie und
Massenpsychologie geboten wird, ist immer das
nämliche, wenn auch unter wechselnden Namen: das
Zauberwort der Suggestion. Bei Tarde
hieß sie Nachahmung, aber wir müssen einem
Autor recht geben, der uns vorhält, die Nachahmung
falle unter den Begriff der Suggestion, sei eben eine
Folge derselben * . Bei L e B o n wurde alles Befrem-
dende der sozialen Erscheinungen auf zwei Faktoren
zurückgeführt, auf die gegenseitige Suggestion der
Einzelnen und das Prestige der Führer. Aber das
Prestige äußert sich wiederum nur in der Wirkung,
Suggestion hervorzurufen. Bei M^Dougall
konnten wir einen Moment lang den Eindruck emp-
fangen, daß sein Prinzip der „primären Affektinduk-
* Brugeiilles, L'essence du ph^nom^n'C social: la Suggestion
Revue philosophique XXV. 1913.
IV. Suggestion und Libido 39
tion'^ die Annahme der Suggestion entbehrlich
mache. Aber bei weiterer Überlegwig müssen wir
doch einsehen, daß dies Prinzip nichts anderes aus-
sagt als die bekannten Behauptungen der ^^Nach-
ahmung'' oder „Ansteckung", nur unter entschie-
dener Betonung des affektiven Moments. Daß eine
derartige Tendenz in uns besteht, wenn wir die
Zeichen eines Affektzustandes bei einem anderen ge-
wahren, in denselben Affekt zu verfallen, ist un-
zweifelhaft, aber wie oft widerstehen wir ihr erfolg-
reich, weisen den Affekt ab, reagieren oft in ganz
gegensätzlicher Weise? Warum also geben wir die-
ser Ansteckung in der Masse regelmäßig nach? Man
wird wiederum sagen müssen, es sei der suggestive
Einfluß der Masse, der uns nötigt, dieser Nach-
ahmungstendenz zu gehorchen, der den Affekt in
uns induziert. Übrigens kommen wir auch sonst bei
M^^Dougall nicht um die Suggestion herum;
wir hören von ihm wie von anderen:, die Massen
zeichnen sich durch besondere Suggestibilität aus.
Man wird so für die Aussage vorbereitet, die
Suggestion (richtiger die Suggerierbarkeit) sei eben
ein weiter nicht reduzierbares Urphänomen, eine
Grundtatsache des menschlichen Seelenlebens. So
hielt es auch B e r n h e i m, von dessen erstaunlichen
40 Massenpsychologie und Ich-Analyse
Künsten ich im Jahre 1889 Zeuge war. Ich weiß
mich aber auch damals an eine dumpfe Gegnerschaft
gegen diese Tyrannei der Suggestion zu erinnern.
Wenn ein Kranker, der sich nicht gefügig zeigte,
angeschrieen wurde: Was tun Sie denn? Vous vous
contresuggestionnez! so sagte ich mir, das sei offen-
bares Unrecht und Gewalttat. Der Mann habe zu
Gegensuggestionen gewiß ein Recht, wenn man ihn
mit Suggestionen zu unterwerfen versuche. Mein
Widerstand nahm dann später die Richtung einer
Auflehnung dagegen, daß die Suggestion, die alles
erklärte, selbst der Erklärung entzogen sein sollte.
Ich wiederholte mit Bezug auf sie die alte Scherz-
frage * :
Christoph trug Christum,
Christus trug die ganze Welt,
Sag\ wo hat Christoph
Damals hin den Fuß gesteUt?
Christophorus Christum, sed Christus sustulit orbem:
Constiterit pedibus die ubi Christophorus?
Wenn ich nun nach etwa 30jähriger Fernhal-
tung wieder an das Rätsel der Suggestion heran-
• Konrad Richter, I>eir deutsche S. Christoph. Berlin
1896. Acta Germanica V, 1.
IV. Sussestion und Libido 41
trete, finde ich, daß sich nichts daran geändert hat.
Von einer einzigen Ausnahme, die eben den Einfluß
der Psychoanalyse bezeugt, darf ich ja bei dieser
Behauptung absehen. Ich sehe, daß man sich beson-
ders darum bemüht, den Begriff der Suggestion
korrekt zu formulieren, also den Gebrauch des
Namens konventionell festzulegen *, und dies ist
nicht überflüssig, denn das Wort geht einer immer
weiteren Verwendung mit aufgelockerter Bedeutung
entgegen und wird bald jede beliebige Beeinflussung
bezeichnen wie im Englischen, wo „to suggest,
Suggestion" unserem „nahelegen", unserer „An-
regung" entspricht. Aber über das Wesen der Sug-
gestion, d. h. über die Bedingungen, unter denen
sich Beeinflussungen ohne zureichende logische Be-
gründung herstellen, hat sich eine Aufklärung nicht
ergeben. Ich würde mich der Aufgabe nicht ent-
ziehen, diese Behauptung durch die Analyse der
Literatur dieser letzten 30 Jahre zu erhärten, allein
ich unterlasse es, weil mir bekannt ist, daß in meiner
Nähe eine ausführliche Untersuchung vorbereitet
wird, welche sich eben diese Aufgabe gestellt hat.
Anstatt dessen werde ich den Versuch machen.
* So M^Dougall im „Journal of Neu!rok)sy and Psycfao-
patliolQgy'', Vol I, No. 1, May 1920: A note on sussestion.
42 Massen]>syciK>k>sle und Ich-AnaJyse
zur Aufklärung der Massenpsychologie den Begriff
der Libido zu verwenden, der uns im Studium
der Psychoneurosen so gute Dienste geleistet hat.
Libido ist ein Ausdruck aus der Afiektivitäts-
lehre. Wir heißen so die als quantitative Größe be-
trachtete — wenn auch derzeit nicht meßbare —
Energie solcher Triebe, welche mit alldem zu tun
«
haben, was man als Liebe zusammenfassen kann.
Den Kern des von uns Liebe Geheißenen bildet na-
türlich, was man gemeinhin Liebe nennt und was
die Dichter besingen, die Geschlechtsliebe mit dem
Ziel der geschlechtlichen Vereinigung. Aber wir
trennen davon nicht ab, was auch sonst an dem
Namen Liebe Anteil hat, einerseits die Selbstliebe,
andererseits die Eltern- und Kindesliebe, die Freund-
schaft und die allgemeine Menschenliebe, auch nicht
die Hingebung an konkrete Gegenstände und an
abstrakte Ideen. Unsere Rechtfertigung liegt darin,
daß die psychoanalytische Untersuchung uns gelehrt
hat, alle diese Strebungen seien der Ausdruck der
nämlichen Triebregungen, die zwischen den Ge-
schlechtern zur geschlechtlichen Vereinigung hin-
drängen, in anderen Verhältnissen zwar von diesem
sexuellen Ziel abgedrängt oder in der Erreichung
desselben aufgehalten werden, dabei aber doch
IV. Suggestion und Libido 43
immer genug von ihrem ursprünglichen Wesen be-
wahren, um ihre Identität kenntlich zu erhalten
(Selbstaufopferung, Streben nach Annäherung).
Wir meinen also, daß die Sprache mit dem Wort
„Liebe" in seinen vielfältigen Anwendungen eine
durchaus berechtigte Zusammenfassung geschaffen
hat, und daß wir nichts Besseres tun können, als die-
selbe auch unseren wissenschaftlichen Erörterungen
und Darstellungen zugrunde zu legen. Durch diesen
Entschluß hat die Psychoanalyse einen Sturm von
Entrüstung entfesselt, als ob sie sich einer frevel-
haften Neuerung schuldig gemacht hätte. Und doch
hat die Psychoanalyse mit dieser „erweiterten" Auf-
fassung der Liebe nichts Originelles geschaffen. Der
„E r o s" des Philosophen P 1 a t o zeigt in seiner
Herkunft, Leistung und Beziehung zur Geschlechts-
liebe eine vollkommene Deckung mit der Liebeskraft,
der Libido der Psychoanalyse, wie Nachman-
sohn und Pf ist er im Einzelnen dargelegt
haben *, und wenn der Apostel Paulus in dem
berühmten Brief an die Korinther die Liebe über
alles andere preist, hat er sie gewiß im nämlichen
* Nachmansohti, Freuds Libidotbeorie vorigllchen mit der
Erosleiire Piatos. Intern. Zeitschr. f. Psychoanalyse III, 1915,
Pf ister. ebd. VIL 1921.
44 Massenpsycholosie und Ich-Analyse
„erweiterten" Sinn verstanden *, woraus nur zu
lernen ist, daß die Menschen ihre großen Denker
nicht immer ernst nehmen, auch wenn sie sie angeb-
lich sehr bewundern.
Diese Liebestriebe werden nun in der Psycho-
analyse a potiori und von ihrer Herkunft her
Sexualtriebe geheißen. Die Mehrzahl der „Gebil-
deten" hat diese Namengebung als Beleidigung
empfunden und sich für sie gerächt, indem sie der
Psychoanalyse den Vorwurf des „Pansexualismus"
entgegenschleuderte. Wer die Sexualität für etwas
die menschliche Natur Beschämendes und Erniedri-
gendes hält, dem steht es ja frei, sich der vorneh-
meren Ausdrücke Eros und Erotik zu bedienen. Ich
hätte es auch selbst von Anfang an so tun können
und hätte mir dadurch viel Widerspruch erspart.
Aber ich mochte es nicht, denn ich vermeide gern
Konzessionen an die Schwachmütigkeit. Man kann
nicht wissen, wohin man auf diesem Wege gerät;
■
man gibt zuerst in Worten nach und dann allmäh-
lich auch in der Sache. Ich kann nicht finden, daß
irgend ein Verdienst daran ist, sich der Sexualität zu
schämen; das griechische Wort Eros, das den
* „Wenn ich mit Menschen- /und mit Ensekungen redete, und
(hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende
ScbeUe". u. ff.
rV. Sussestlon und Libido 45
Schimpf lindern soll, ist doch schließlich nichts an-
deres als die Übersetzung unseres deutschen Wortes
Liebe, und endlich, wer warten kann, braucht keine
Konzessionen zu machen.
Wir werden es also mit der Voraussetzung ver-
suchen, daß Liebesbeziehungen (indifferent ausge-
drückt: Gefühlsbindungen) auch das Wesen der
Massenseele ausmachen. Erinnern wir uns daran,
daß von solchen bei den Autoren nicht die Rede ist.
Was ihnen entsprechen würde, ist offenbar hinter
dem Schirm, der spanischen Wand, der Suggestion
verborgen. Auf zwei flüchtige Gedanken stützen wir
zunächst unsere Erwartung. Erstens, daß die Masse
offenbar durch irgend eine Macht zusammengehal-
ten wird. Welcher Macht könnte man aber diese
Leistung eher zuschreiben als dem Eros, der alles
in der Welt zusammenhält? Zweitens, daß man den
Eindruck empfängt, wenn der Einzelne in der Masse
seine Eigenart aufgibt und sich von den anderen
suggerieren läßt, er tue es, weil ein Bedürfnis bei ihm
besteht, eher im Einvernehmen mit ihnen als im
Gegensatz zu ihnen zu sein, also vielleicht doch
„ihnen zuliebe".
V.
künstliche Massen: Kirche und Heer.
Aus der Morphologie der Massen rufen wir
uns ins Gedächtnis, daß man sehr verschiedene
Arten von Massen und gegensätzliche Richtungen
in ihrer Ausbildung unterscheiden kann. Es gibt
sehr flüchtige Massen und höchst dauerhafte;
homogene, die aus gleichartigen Individuen bestehen,
und nicht homogene; natürliche Massen und künst-
liche, die zu ihrem Zusammenhalt auch einen
äußeren Zwang erfordern; primitive Massen und
gegliederte, hoch organisierte. Aus Gründen aber,
in welche die Einsicht noch verhüllt ist,» möchten
wir auf eine Unterscheidung besonderen Wert legen,
die bei den Autoren eher zu wenig beachtet wird;
ich meine die von führerlosen Massen und von
solchen mit Führern. Und recht im Gegensatz zur
gewohnten Übung soll unsere Untersuchung nicht
eine relativ einfache Massenbildung zum Ausgangs-
V. Zw€i künstliche Massen: Kirdhe und Heer 47
punkt wählen, sondern an hoch organisierten, dauer-
haften, künstlichen Massen beginnen. Die inter-
essantesten Beispiele solcher Gebilde sind die Kirche,
die Oemeinschaft der Gläubigen, und die Armee,
das Heer.
Kirche und Heer sind künstliche Massen, das
heißt, es wird ein gewisser äußerer Zwang auf-
gewendet, um sie vor der Auflösung zu bewahren
und Veränderungen in ihrer Struktur hintanzuhalten.
Man wird in der Regel nicht befragt oder es wird
einem nicht freigestellt, ob man in eine solche Masse
eintreten will; der Versuch des Austritts wird
gewöhnlich verfolgt oder strenge bestraft oder ist
an ganz bestimmte Bedingungen geknüpft. Warum
diese Vergesellschaftungen so besonderer Sicherun-
gen bedürfen, liegt unserem Interesse gegenwärtig
ganz ferne. Uns zieht nur der eine Umstand an, daß
man an diesen hochorganisierten, in solcher Weise
vor dem Zerfall geschützten Massen mit großer
DeutÜchkeit gewisse Verhältnisse erkennt, die
anderswo weit mehr verdeckt sind.
In der Kirche — wir können mit Vorteil die
katholische Kirche zum Muster nehmen — gilt wie
im Heer, so verschieden beide sonst sein mögen, die
nämliche Vorspiegelung (Illusion), daß ein Oberhaupt
48 Massenpsydiolosie und IchnAnalyse
da ist, — in der katholischen Kirche Christus, in der
Armee der Feldherr — das alle Einzelnen der Masse
mit der gleichen Liebe liebt. An dieser Illusion hängt
alles; ließe man sie fallen, so zerfielen sofort, soweit
der äußere Zwang es gestattete, Kirche wie Heer.
Von Christus wird diese gleiche Liebe ausdrücklich
ausgesagt: Was ihr getan habt Einem unter diesen
meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
Er steht zu den Einzelnen der gläubigen Masse
im Verhältnis eines gütigen älteren Bruders, ist
ihnen ein Vaterersatz. Alle Anforderungen an
die Einzelnen leiten sich von dieser Liebe Christi
ab. Ein demokratischer Zug geht durch die Kirche,
eben weil vor Christus alle gleich sind, alle
den gleichen Anteil an seiner Liebe haben.
Nicht ohne tiefen Grund wird die Oleichartigkeit
der christlichen Gemeinde mit einer Familie herauf-
beschworen und nennen sich die Gläubigen Brüder
in Christo, d. h. Brüder durch die Liebe, die Christus
für sie hat. Es ist nicht zu bezweifeln, daß die Bin-
dung jedes Einzelnen an Christus auch die Ursache
ihrer Bindung unter einander ist. Ähnliches gilt für
das Heer; der Feldherr ist der Vater, der alle seine
Soldaten gleich liebt, und darum sind sie Kameraden
untereinander. Das Heer unterscheidet sich struk-
V. Zwei künstliche Massen: Kirohe und Heer 49
turell von der Kirche darin, daß es aus einem Stufen-
bau von solchen Massen besteht. Jeder Hauptmann
ist gleichsam der Feldherr und Vater seiner Abtei-
lung, jeder Unteroffizier der seines Zuges. Eine ähn-
liche Hierarchie ist zwar auch in der Kirche aus-
gebildet, spielt aber in ihr nicht dieselbe ökono-
mische Rolle, da man Christus mehr Wissen und
Bekümmern um die Einzelnen zuschreiben darf als
dem menschlichen Feldherrn.
Qegen diese Auffassung der libidinösen Struktur
einer Armee wird man mit Recht einwenden, daß di^
. Ideen des Vaterlandes, des nationalen Ruhms u. a., die für
den Zusammenhalt der Armee so bedeutsam sind, hier
keine Stelle gefunden haben. Die Antwort darauf lautet,
dies sei ein anderer, nicht mehr so einfacher Fall von
Massenbindung, und wie die Beispiele großer Heerführer,
Caesar, Wallenstein, Napoleon, zeigen, sind solche Ideen
für den Bestand einer Armee nicht unentbehrlich. Von
. dem möglichen Ersatz des Führers durch eine führende
Idee und den Beziehungen zwischen beiden wird später
kurz die Rede sein. Die Vernachlässigung dieses libidi-
nösen Faktors in der Armee, auch dann, wenn er nicht
der einzig wirksame ist, scheint nicht nur ein theoreti-
scher Mangel, sondern auch eine praktische Gefahr. Der
preußische Militarismus, der ebenso unpsychologisch war
wie die deutsche Wissenschaft, hat dies vielleicht im
großen Weltkrieg erfahren müssen. Die Kriegsneurosen,
welche die deutsche Armee zersetzten, sind ja bekannt-
lich als Protest des Einzelnen gegen die ihm in der Armee
50 M^cssenpsychologie und Ich-Analyse
zugemutete Rolle erkannt worden, und nach den Mit-
teilungen von E. Simmel* darf man behaupten, daß die
lieblose Behandlung des gemeinen Mannes durch seine
Vorgesetzten obenan unter den Motiven der Erkrankung
stand. Bei besserer Würdigung dieses Libidoanspruches
hätten wahrscheinlich die phantastischen Versprechungen
der 14 Punkte des amerikanischen Präsidenten nicht so
leicht Glauben gefunden und das großartige Instrument
wäre den deutschen Kriegskünstlern nicht in der Hand
zerbrochen.
Merken wir an, daß in diesen beiden künstlichen
Massen jeder Einzelne einerseits an den Führer
(Christus, Feldherrn), andererseits an die anderen
Massenindividuen libidinös gebunden ist. Wie sich
diese beiden Bindungen zueinander verhalten, ob
sie gleichartig und gleichwertig sind und wie sie
psychologisch zu beschreiben wären, das müssen
wir einer späteren Untersuchung vorbehalten. Wir
, getrauen uns aber jetzt schon eines leisen Vorwurfes
gegen die Autoren, daß sie die Bedeutung des Füh-
rers für die Psychologie der Masse nicht genügend
gewürdigt haben, während uns die Wahl des ersten
Untersuchungsobjekts in eine günstigere Lage ge-
bracht hat. Es will uns scheinen, als befänden wir
uns auf dem richtigen Weg, der die Haupterschei-
nung der Massenpsychologie, die Unfreiheit des
* Kriegsnöurosen uiid „Psychisches Traaima'*, Müncbeai 1918.
V. Zwei künstliche Massen: Kirdie und Heer 51
Einzelnen in der Masse, aufklären kann. Wenn für
jeden Einzelnen eine so ausgiebige Gefühlsbindung
nach zwei Richtungen besteht, so wird es uns nicht
schwer werden, aus diesem Verhältnis die beobach-
tete Veränderung und Einschränkung seiner Persön-
lichkeit abzuleiten.
Einen Wink ebendahin, das Wesen einer Masse
bestehe in den in ihr vorhandenen libidinösen Bin-
dungen, erhalten wir auch in dem Phänomen der
Panik, welches am besten an militärischen Massen
zu studieren ist. Eine Panik entsteht, wenn eine
solche Masse sich zersetzt. Ihr Charakter ist, daß
kein Befehl des Vorgesetzten mehr angehört wird,
und daß jeder für sich selbst sorgt ohne Rücksicht
auf die anderen. Die gegenseitigen Bindungen haben
aufgehört und eine riesengroße, sinnlose Angst wird
frei. Natürlich wird auch hier wieder der Einwand
naheliegen, es sei vielmehr umgekehrt, indem die
Angst so groß gewachsen sei, daß sie sich über alle
Rücksichten und Bindungen hinaussetzen konnte.
M^ D o u g a 1 1 hat sogar (S. 24) den Fall der
Panik (allerdings der nicht militärischen) als Muster-
beispiel für die von ihm betonte Affektsteigerung
durch Ansteckung (primary induction) verwertet.
Allein diese rationelle Erklärungsweise geht hier
52 Massenpsychologie und loh-Analyse
doch ganz fehl. Es steht eben zur Erklärung, warum
die Angst so riesengroß geworden ist. Die Oröße
der Gefahr kann nicht beschuldigt werden, denn die-
selbe Armee, die jetzt der Panik verfällt, kann ähnlich
große und größere Gefahren tadellos bestanden
haben, und es gehört geradezu zum Wesen der
Panik, daß sie nicht im Verhältnis zur drohenden
Gefahr steht, oft bei den nichtigsten Anlässen aus-
bricht. Wenn der Einzelne in panischer Angst für
sich selbst zu sorgen unternimmt, so bezeugt er da-
mit die Einsicht, daß die affektiven Bindungen auf-
gehört haben, die bis dahin die Gefahr für ihn herab-
setzten. Nuii, da er der Gefahr allein entgegensteht,
darf er sie allerdings höher einschätzen. Es verhält
sich also so, daß die panische Angst die Locke-
rung in der libidinösen Struktur der Masse voraus-
setzt und in berechtigter Weise auf sie reagiert, nicht
umgekehrt, daß die Libidobindungen der Masse an
der Angst vor der Gefahr zugrunde gegangen wären.
Mit diesen Bemerkungen wird der Behauptung, daß
die Angst in der Masse durch Induktion (Ansteckung) ins
Ungeheure wachse, keineswegs widersprochen. Die
M^Dougairsche Auffassung ist durchaus zutreffend
für den Fall, daß die Gefahr eine real große ist und daß in
der Masse keine starken Qefühlsbindungen bestehen,
Bedingungen, die verwirklicht werden, wenn z. B. in
V. Zwei künstliche Massen: Kirche und Heer 53
einem Theater oder Unterhaltungslokal Feuer ausbricht.
Der lehrreiche und für unsere Zwecke verwertete Fall
ist der oben erwähnte, daß ein Heereskörper in Panik
gerät, wenn die Gefahr nicht über das gewohnte und
oftmals gut vertragene Maß hinaus gesteigert ist. Man
wird nicht erwarten dürfen, daß der Gebrauch des
Wortes „Panik" scharf und eindeutig bestimmt sei.
Manchmal bezeichnet man so jede Massenangst, andere
Male auch die Angst eines Einzelnen, wenn sie über jedes
Maß hinausgeht, häufig scheint der Name für den Fall
reserviert, daß der Angstausbruch durch den Anlaß nicht
gerechtfertigt wird. Nehmen wir das Wort „Panik" im
Sinne der Massenangst, so können wir eine weitgehende
Analogie behaupten. Die Angst des Individuums wird her-
vorgerufen entweder durch die Größe der Gefahr oder
durch das Auflassen von Gefühlsbindungen (Libido-
besetzungen) ; der letztere Fall ist der der neurotischen
Angst. (S. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoana-
lyse, XXV., 3. Aufl., 1920.) Ebenso entsteht die Panik
durch die Steigerung der Alle betreffenden Gefahr oder
durch das Aufhören der die Masse zusammenhaltenden
Gefühlsbindungen, und dieser letzte Fall ist der neuroti-
schen Angst analog. (Vgl. hiezu den gedankenreichen,
etwas phantastischen Aufsatz von Bela v. Fel-
szeghy: Panik und Pankomplex, „Imago", VI, 1920.)
Wenn man die Panik wie M^Dougall (1. c.)
als eine der deutlichsten Leistungen des „group mind"
beschreibt, gelangt man zum Paradoxon, daß sich diese
Massenseele in einer ihrer auffälligsten Äußerungen
selbst aufhe))t. Es ist kein Zweifel mögUch, daß die Panik
die Zersetzung der Masse bedeutet, sie hat das Aufhören
aller Rücksichten zur Folge, welche sonst die Einzelnen
der Masse für einander zeigen.
54 Masse npsydiologle und loh-Analys«
Der typische Anlaß für den Ausbruch einer
Panik ist so ähnlich, wie er in der N e s t r o y'schen
Parodie des Hebbel sehen Dramas von Judith
und Holofernes dargestellt wird. Da schreit ein
Krieger: „Der Feldherr hat den Kopf verloren", und
darauf ergreifen alle Assyrer die Flucht. Der Verlust
des Führers in irgend einem Sinne, das Irrewerden
an ihm bringt die Panik bei gleichbleibender Gefahr
zum Ausbruch; mit der Bindung an den Führer
schwinden — in der Regel — auch die gegenseitigen
Bindungen der Massenindividuen. Die Masse zer-
stiebt wie ein Bologneser Fläschchen, dem man die
Spitze abgebrochen hat.
Die Zersetzung einer reügiösen Masse ist nicht
so leicht zu beobachten. Vor kurzem geriet mir ein
von katholischer Seite stammender, vom Bischof von
London empfohlener englischer Roman in die Hand
mit dem Titel: „When it was dark", der eine solche
Möglichkeit und ihre Folgen in geschickter und,
vde ich meine, zutreffender Weise ausmalte. Der
Roman erzählt wie aus der Gegenwart, daß
es einer Verschwörung von Feinden der Person
"■ ■ ■■ nd des christlichen Glaubens gehngt, eine
imer in Jerusalem auffinden zu lassen,
1 Inschrift Josef von Arimathaa bekennt,
V. Zw«i künstliche Massen: Kirche und Heer 55
«
daß er aus Gründen der Pietät den Leichnam
Christi am dritten Tag nach seiner Beisetzung heim-
lich aus seinem Grab entfernt und hier bestattet
habe. Damit ist die Auferstehung Christi und seine
göttliche Natur abgetan und die Folge dieser
archäologischen fentdeckung ist eine Erschütterung
der europäischen Kultur und eine außerordentliche
Zunahme aller Gewalttaten und Verbrechen, die erst
schwindet, nachdem das Komplott der Fälscher ent-
hüllt werden kann.
Was bei der hier angenommenen Zersetzung
der religiösen Masse zum Vorschein kommt, ist nicht
Angst, für welche der Anlaß fehlt, sondern rück-
sichtslose und feindselige Impulse gegen andere
Personen, die sich bis dahin dank der gleichen Liebe
Christi nicht äußern konnten *. Außerhalb dieser
Bindung stehen aber auch während des Reiches
Christi jene Individuen, die nicht zur Glaubens-
gemeinschaft gehören, die ihn nicht lieben und die
er nicht liebt; darum muß eine Religion, auch wenn
sie sich die Religion der Liebe heißt, hart und lieb-
los gegen diejenigen sein, die ihr nicht angehören.
Im Grunde ist ja jede Religion eine solche Reli-
* Vgl. hiezu die Erklärung ähnlicher Phänomene nadi dem
Wegfall der landesväterliohen Autorität bei P. Federn, Die vater-
lose QeseJlschaTt, Wien, Anzengruber-Verlag, 1919.
56 Massenpsycholosie und Ich-Anailyse
gion der Liebe für alle, die sie umfaßt, und jeder
liegt Grausamkeit und Intoleranz gegen die nicht
dazugehörigen nahe. Man darf, so schwer es einem
auch persönlich fällt, den Gläubigen daraus keinen
zu argen Vorwurf machen; Ungläubige und Indif-
ferente haben es in diesem Punkte psychologisch
umso viel leichter. Wenn diese Intoleranz sich heute
nicht mehr so gewalttätig und grausam kundgibt
wie in früheren Jahrhunderten, so wird man daraus
kaum auf eine Milderung in den Sitten der Men-
schen schließen dürfen. Weit eher ist die Ursache
davon in der unleugbaren Abschwächung der reli-
giösen Gefühle und der von ihnen abhängigen libi-
dinösen Bindungen zu suchen. Wenn eine andere
Massenbindung an die Stelle der religiösen tritt, wie
es jetzt der sozialistischen zu gelingen scheint, so
wird sich dieselbe Intoleranz gegen die Außen^
stehenden ergeben wie im Zeitalter der Religions-
kämpfe, und wenn die Differenzen wissenschaft-
licher Anschauungen je eine ähnliche Bedeutung
für die Massen gewinnen könnten, würde sich das-
selbe Resultat auch für diese Motivierung wieder-
holen.
VI.
m
Weitere Aufgaben und Arbeitsrichtungen.
Wir haben bisher zwei artifizielle Massen unter-
sucht und gefunden, daß sie von zweierlei Gefühls-
bindungen beherrscht werden, von denen die eine an
den Führer — wenigstens für sie — bestimmender
zu sein scheint als die andere, die der Massenindi-
viduen aneinander.
Nun gäbe es in der Morphologie der Massen
noch viel zu untersuchen und zu beschreiben. Man
hätte von der Feststellung auszugehen, daß eine
bloße Menschenmenge noch keine Masse ist, so
lange sich jene Bindungen in ihr nicht hergestellt
haben, hätte aber das Zugeständnis zu machen, daß
in einer beliebigen Menschenmenge sehr leicht die
Tendenz zur Bildung einer psychologischen Masse
hervortritt. Man müßte den verschiedenartigen, mehr
oder minder beständigen Massen, die spontan zu-
stande kommen, Aufmerksamkeit schenken, die Be-
58 Miassenpsychologle und Idi^nalyse
dingungen ihrer Entstehung und ihres Zerfalls stu-
dieren. Vor allem würde uns der Unterschied zwi-
schen Massen, die einen Führer haben, und führer-
losen Massen beschäftigen. Ob nicht die Massen mit
Führer die ursprüngUcheren und vollständigeren
sind, ob in den anderen der Fuhrer nicht durch eine
Idee, ein Abstraktum ersetzt sein kann, wozu ja
schon die religiösen Massen mit ihrem unaufzeig-
baren Oberhaupt die Überleitung bilden, ob nicht
eine gemeinsame Tendenz, ein Wunsch, an dem eine
Vielheit Anteil nehmen kann, den nämlichen Ersatz
leistet. Dieses Abstrakte könnte sich wiederum mehr
oder weniger vollkommen in der Person eines gleich-
sam sekundären Führers verkörpern, und aus der
Beziehung zwischen Idee und Führer ergäben sich
interessante Mannigfaltigkeiten. Der Fuhrer oder die
führende Idee könnten auch sozusagen negativ wer-
den; der Haß gegen eine bestimmte Person oder
Institution könnte ebenso einigend wirken und ähn-
hche Oefühlsbindungen hervorrufen wie die po-
sitive Anhänglichkeit. Es fragte sich dann auch, ob
der Führer für das Wesen der Masse wirklich un-
u. a. m.
11 diese Fragen, die zum Teil auch in der
ler Massenpsychologie behandelt sein
VI. Weitere Aufgaben und Arbeitsrichtungen 59
mögen, werden nicht imstande sein, unser Interesse
von den psychologischen Orundproblemen abzu-
lenken, die uns in der Struktur einer Masse geboten
werden. Wir werden zunächst von einer Überlegung
gefesselt, die uns auf dem kürzesten Weg den Nach-
weis verspricht, daß es Libidobindungen sind,
welche eine Masse charakterisieren.
Wir halten uns vor, wie sich, die Menschen im
allgemeinen affektiv zueinander verhalten. Nach dem
berühmten Schopenhaue raschen Gleichnis von
den frierenden Stachelschweinen verträgt keiner eine
allzu intime Annäherung des anderen.
„Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich, an
einem kalten Wintertage, recht nahe zusammen, um durch
die gegenseitige Wärme, sich vor dem Erfrieren zu
schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen
Stacheln, welches sie dann wieder voneinander entfernte.
Wenn nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder
näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite
Übel, so daß sie zwischen beiden Leiden hin- und her-
geworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung heraus-
gefunden hatten, in der sie es am besten aushalten
konnten." (Parerga und Paralipomena, IL Teil, XXXI.,
Gleichnisse und Parabeln.)
Nach dem Zeugnis der Psychoanalyse hinter-
läßt fast jedes intime Gefühlsverhältnis zwischen
zwei Personen von längerer Dauer — Ehebeziehung,
60 M'assettjÄycbologie und Ich-Analyse
Freundschaft, Eltern- und Kindschaft* — einen
Bodensatz von ablehnenden, feindseligen Gefühlen,
der erst durch Verdrängung beseitigt werden muß.
Unverhüllter ist es, wenn jeder Kompagnon mit sei-
nem Gesellschafter hadert, jeder Untergebene gegen
seinen Vorgesetzten murrt. Dasselbe geschieht dann,
wenn die Menschen zu größeren Emheiten zusam-
mentreten. Jedesmal, wenn sich zwei Familien durch
eine Eheschließung verbinden, hält sich jede von
ihnen für die bessere oder vornehmere auf Kosten
der anderen. Von zwei benachbarten Städten wird
jede zur mißgünstigen Konkurrentin der anderen;
jedes Kantönli sieht geringschätzig auf das andere
herab. Nächstverwandte Völkerstämme stoßen
einander ab, der Süddeutsche mag den Norddeut-
schen nicht leiden, der Engländer sagt dem Schotten
alles Böse nach, der Spanier verachtet den Portu-
giesen. Daß bei größeren Differenzen sich eine
schwer zu überwindende Abneigung ergibt, des
Galliers gegen den Germanen, des Ariers gegen den
Semiten, des Weißen gegen den Farbigen, hat auf-
gehört uns zu verwundern.
• VieUeicht mit «inziger Ausnahme der Beziehung der Mutter
zum Sohn, die auf Narzißmus gegründet, durch spätere Rivalität
nicht gestört und durch einen Ansatz zur sexuellen Objektwalhl ver-
stärkt wird.
VI. Weitere Aufgaben und Arbeitsrichtungen 61
Wenn sich die Feindseligkeit gegen sonst ge-
liebte Personen richtet, bezeichnen wir es als Oe-
fühlsambivalenz und erklären uns diesen Fall in
wahrscheinlich allzu rationeller Weise durch die
vielfachen Anlässe zu Interessenkonflikten, die sich
gerade in so intimen Beziehungen ergeben. In den
unverhüllt hervortretenden Abneigungen und Ab-
stoßungen gegen nahestehende Fremde können wir
den Ausdruck einer Selbstliebe, eines Narzißmus, er-
kennen, der seine Selbstbehauptung anstrebt und
sich so benimmt, als ob das Vorkommen einer Ab-
weichung von seinen individuellen Ausbildungen
eine Kritik derselben und eine Aufforderung sie um-
zugestalten mit sich brächte. Warum sich eine so
große Empfindlichkeit gerade auf diese Einzelheiten
der Differenzierung geworfen haben sollte, wissen
wir nicht; es ist aber unverkennbar, daß sich in
diesem ganzen Verhalten der Menschen eine Haß-
bereitschaft, eine Aggressivität kundgibt, deren Her-
kunft unbekannt ist, und der man einen elementaren
Charakter zusprechen möchte.
In einer kürzlich (1920) veröffentlichten Schrift
„Jenseits des Lustprinzips" habe ich versucht, die Po-
larität von Lieben und Hassen mit einem angenommenen
Gegensatz von Lebens- und todestrieben zu verknüpfen,
62 Massenpsychologie und lofi-Analyse
und die Sexualtriebe als die reinsten Vertreter der
ersteren, der Lebenstriebe, hinzustellen.
Aber all diese Intoleranz schwindet, zeitweilig
oder dauernd, durch die Massenbildung und in der
Masse. Solange die Massenbildung anhält oder so-
weit sie reichjt, benehmen sich die Individuen als
wären sie gleichförmig, dulden sie die Eigenart des
anderen, stellen sich ihm gleich und verspüren kein
Gefühl der Abstoßung gegen ihn. Eine solche Ein-
schränkung des Narzißmus kann nach unseren theo-
retischen Anschauungen nur durch ein Moment er-
zeugt werden, durch libidinöse Bindung an andere
Personen. Die Selbstliebe findet nur an der Fremd-
liebe, Liebe zu Objekten, eine Schranke*. Man wird
sofort die Frage aufwerfen, ob nicht die Interessen-
gemeinschaft, an und für sich und ohne jeden libidi-
nösen Beitrag, zur Duldung des anderen und zur
Rücksichtnahme auf ihn führen muß. Man wird
diesem Einwand mit dem Bescheid begegnen, daß
auf solche Weise eine bleibende Einschränkung des
Narzißmus doch nicht zustande kommt, da diese To-
leranz nicht länger anhält als der unmittelbare Vor-
teil, den man aus der Mitarbeit des anderen zieht.
• S. Zur Einführung des Narzißmus 1914, Sarnmiung kleiner
Schriften zur N-eurosenl-ehre, vierte Folge 1918.
VI. Weitere Aufgaben und Arbeitsrichtungen 63
Allein der praktische Wert dieser Streitfrage ist ge-
ringer, als man meinen sollte, denn die Erfahrung
hat gezeigt, daß sich im Falle der Mitarbeiterschaft
regelmäßig libidinöse Bedingungen zwischen den
Kameraden herstellen, welche die Beziehung zwi-
schen ihnen über das Vorteilhafte hinaus verlängern
und fixieren. Es geschieht in den sozialen Beziehun-
gen der Menschen dasselbe, was der psychoanalyti-
schen Forschung in dem Entwicklungsgang der indi-
viduellen Libido bekannt geworden ist. Die Libido
lehnt sich an die Befriedigung der großen Lebens-
bedürfnisse an und wählt die daran beteiligten Per-
sonen zu ihren ersten Objekten. Und wie beim Ein-
zelnen, so hat auch in der Entwicklung der ganzen
Menschheit nur die Liebe als Kulturfaktor im Sinne
einer Wendung vom Egoismus zum Altruismus ge-
wirkt. Und zwar. sowohl die geschlechtliche Liebe
zum Weibe mit all den aus ihr fließenden Nötigun-
gen das zu verschonen, was dem Weibe lieb war,
als auch die desexualisierte, sublimiert homosexuelle
Liebe zum anderen Manne, die sich aus der gemein-
samen Arbeit ergab.
Wenn also in der Masse Einschränkungen der
narzißtischen Eigenliebe auftreten, die außerhalb der-
selben nicht wirken, so ist dies ein zwingender Hin-
5*
64 Massenpsychologie und Ich-A<na1yse
weis darauf, daß das Wesen der Massenbildung in
neuartigen libidinösen Bindungen der Massenmit-
glieder aneinander besteht.
Nun wird aber unser Interesse dringend fra-
gen, welcher Art diese Bindungen in der Masse sind.
In der psychoanalytischen Neurosenlehre haben wir
uns bisher fast ausschließlich mit der Bindung sol-
cher Liebestriebe an ihre Objekte beschäftigt, die
noch direkte Sexualziele verfolgen. Um solche Sexual-
ziele kann es sich in der Masse offenbar nicht han-
deln. Wir haben es hier mit Liebestrieben zu tun,
die ohne darum minder energisch zu wirken, doch
von ihren ursprünglichen Zielen abgelenkt sind. Nun
haben wir bereits im Rahmen der gewöhnlichen
sexuellen Objektbesetzung Erscheinungen bemerkt,
die einer Ablenkung des Triebs von seinem Sexual-
ziel entsprechen. Wir haben sie als Grade von Ver-
liebtheit beschrieben und erkannt, daß sie eine ge-
wisse Beeinträchtigung des Ichs mit sich bringen.
Diesen Erscheinungen der Verliebtheit werden wir
jetzt eingehendere Aufmerksamkeit zuwenden, in der
begründeten Erwartung, an ihnen Verhältnisse zu
finden, die sich auf die Bindungen in den Massen
übertragen lassen. Außerdem möchten wir aber
wissen, ob diese Art der Objektbesetzung, wie wir
VI. Weitere Aufgaben und Arbeitsrichtungen 65
sie aus dem Geschlechtsleben kennen, die einzige
Weise der Oefühlsbindung an eine andere Person
darstellt, oder ob wir noch andere solche Mecha-
nismen in Betracht zu ziehen haben. Wir erfahren
tatsächlich aus der Psychoanalyse, daß es noch an-
dere Mechanismen der Oefühlsbindung gibt, die so-
genannten Identifizierungen, ungenügend
bekannte, schwer darzustellende Vorgänge, deren
Untersuchung uns nun eine gute Weile vom Thema
der Massenpsychologie fernhalten wird.
VII.
Die Identifizierung.
Die Identifizierung ist der Psychoanalyse als
früheste Äußerung einer Gefühlsbindung an eine
andere Person bekannt. Sie spielt in der Vor-
geschichte des Ödipuskomplexes eine Rolle. Der
kleine Knabe legt ein besonderes Interesse für seinen
Vater an den Tag, er möchte so werden und so sein
wie er, in allen Stücken an seine Stelle treten. Sagen
wir ruhig: er nimmt den Vater zu seinem Ideal.
Dies Verhalten hat nichts mit einer passiven oder
femininen Einstellung zum Vater (und zum Manne
überhaupt) zu tun, es ist vielmehr exquisit männlich.
Es verträgt sich sehr wohl mit dem Ödipuskomplex,
den es vorbereiten hilft.
Gleichzeitig mit dieser Identifizierung mit dem
Vater oder etwas später, hat der Knabe begonnen,
eine richtige Objektbesetzung der Mutter nach dem
Anlehnungstypus vorzunehmen. Er zeigt also dann
VII. Die Identifizierung 67
zwei psychologisch verschiedene Bindungen, zur
Mutter eine glatt sexuelle Objektbesetzung, zum
Vater eine vorbildliche Identifizierung. Die beiden
bestehen eine Weile nebeneinander, ohne gegen-
seitige Beeinflussung oder Störung. Infolge der
unaufhaltsam fortschreitenden Vereinheitlichung des
Seelenlebens treffen sie sich endlich und durch dies
Zusammenströmen entsteht der normale Ödipus-
komplex. Der Kleine merkt, daß ihm der Vater bei
der Mutter im Wege steht; seine Identifizierung mit
dem Vater nimmt jetzt eine feindselige Tönung an
und wird mit dem Wunsch identisch, den Vater
auch bei der Mutter zu ersetzen. Die Identifizierung
ist eben von Anfang an ambivalent, sie kann sich
ebenso zum Ausdruck der Zärtlichkeit wie zum
Wunsch der Beseitigung wenden. Sie benimmt sich
wie ein Abkömmling der ersten oralen Phase der
Libidoorganisation, in welcher man sich das
begehrte und geschätzte Objekt durch Essen einver-
leibte und es dabei als solches vernichtete. Der
Kannibale bleibt bekanntlich auf diesem Standpunkt
stehen; er hat seine Feinde zum Fressen lieb, und er
frißt nur die, die er lieb hat *.
* S. Drei AbhandluiiKen zur Sexuaitilieorie .und Abraham:
„Untersuchungen über die früheste prägenitale Entwicklungsstufe
68 Massenpsycholagie und Ich-Anatyse
Das Schicksal dieser Vateridentifizierung ver-
liert man später leicht aus den Augen. Es kann dann
geschehen, daß der Ödipuskomplex eine Umkeh-
rung erfährt, daß der Vater in femininer Einstellung
zum Objekte genommen wird, von dem die direkten
Sexualtriebe ihre Befriedigung erwarten, und dann
ist die Vateridentifizierung zum Vorläufer der Ob-
jektbindung an den Vater geworden. Dasselbe gilt
mit den entsprechenden Ersetzungen auch für die
kleine Tochter.
Es ist leicht, den Unterschied einer solchen
Vateridentifizierung von einer Vaterobjektwahl in
einer Formel auszusprechen. Im ersten Falle ist der
Vater das, was man sein, im zweiten das, was man
haben möchte. Es ist also der Unterschied, ob die
Bindung am Subjekt oder am Objekt des Ichs an-
greift. Die erstere ist darum bereits vor jeder
sexuellen Objektwahl möglich. Es ist weit schwie-
riger, diese Verschiedenheit metapsychologisch an-
schauHch darzustellen. Man erkennt nur, die Identi-
fizierung strebt danach, das eigene Ich ähnlich zu
gestalten wie das andere zum „Vorbild" genom-
mene.
der Libido". Infern. Zeitschr. f. Psychoanalyse, IV. 1916, auch in
dessen „Klinische Beiträ-ge zur Psychoanalyse." Intern, psychoanalyt.
Bibliothek, Bd. 10, 1921.
VII. Die Identifizterung. 69
Aus einem, verwickeiteren Zusammenhange
lösen wir die Identifizierung bei einer neurotischen
Symptombildung. Das kleine Mädchen, an das wir
uns jetzt halten wollen, bekomme dasselbe Leidens-
symptom wie seine Mutter, z. B. denselben quälenden
Husten. Das kann nun auf verschiedenen Wegen
zugehen. Entweder ist die Identifizierung dieselbe
aus dem Ödipuskomplex, die ein feindseliges Er-
setzenwollen der Mutter bedeutet, und das Symptom
drückt die ObjektUebe zum Vater aus; es realisiert
die Ersetzung der Mutter unter dem Einfluß des
Schuldbewußtseins: Du hast die Mutter sein wollen,
jetzt bist du's wenigstens im Leiden. Das ist dann
der komplette Mechanismus der hysterischen Sym-
ptombildung. Oder aber, das Symptom ist dasselbe
wie das der geUebten Person (so wie z. B. Dora im
„Bruchstück einer Hysterieanalyse" den^ Husten des
Vaters imitiert); dann können wir den Sachverhalt
nur so beschreiben, dieldentifizierungsei
an Stelle der Objektwahl getreten,
die Objektwahl sei zur Identifizie-
rung regrediert. Wir haben gehört, daß die
Identifizierung die früheste und ursprünglichste
Form der Gefühlsbindung ist; unter den Verhält-
nissen der Symptombildung, also der Verdrängung,
70 Massenpsychologie und Ich-Analyse
und der Herrschaft der Meclftnismen des Unbe-
wußten kommt es oft vor, daß die Objektwahl wie-
der zur Identifizierung wird, also das Ich die Eigen-
schaften des Objekts an sich nimmt. Bemerkenswert
ist es, daß das Ich bei diesen Identifizierungen das
eine Mal die ungeliebte, das andere Mal aber die
geliebte Person kopiert. Es muß uns auch auffallen,
daß beide Male die Identifizierung eine partielle,
höchst beschränkte ist, nur einen einzigen Zug von
der Objektperson entlehnt.
Es ist ein dritter, besonders häufiger und be-
deutsamer Fall der Symptombildung, daß die Iden-
tifizierung vom Objektverhältnis zur kopierten Per-
son ganz absieht. Wenn z. B. eines der Mädchen
im Pensionat einen Brief vom geheim Geliebten
bekommen hat, der ihre Eifersucht erregt, und auf
den sie mit einem hysterischen Anfall reagiert, so
werden einige ihrer Freundinnen, die darum wissen,
diesen Anfall übernehmen, wie wir sagen, auf dem
Wege der psychischen Infektion. Der Mechanismus
ist der der Identifizierung auf Grund des sich in
dieselbe Lage Versetzenkönnens oder Versetzen-
wollens. Die anderen möchten auch ein geheimes
Liebesverhältnis haben und akzeptieren unter dem
Einfluß des Schuldbewußtseins auch das damit ver-
VII. Die Wettüfizierung. 71
bundene Leid. Es wäre unrichtig, zu behaupten,
sie eignen sich das Symptom aus Mitgefühl an. Im
Gegenteil, das Mitgefühl entsteht erst aus der Iden-
tifizierung, und der Beweis hiefür ist, daß sich solche
Infektion oder Imitation auch unter Umständen her-
stellt, wo noch geringere vorgängige Sympathie
zwischen beiden anzunehmen ist, als unter Pen-
sionsfreundinnen zu bestehen pflegt. Das eine Ich
hat am anderen eine bedeutsame Analogie in einem
Punkte wahrgenommen, in unserem Beispiel in der
gleichen Oefühlsbereitschaft, es bildet sich darauf-
hin eine Identifizierung in diesem Punkte, und unter
dem Einfluß der pathogenen Situation verschiebt
sich diese Identifizierung zum Symptom, welches
das eine Ich produziert hat. Die Identifizierung
durch das Symptom wird so zum Anzeichen für
eine Deckungsstelle der beiden Ich, die verdrängt
gehalten werden soll.
Das aus diesen drei Quellen Gelernte können
wir dahin zusammenfassen, daß erstens die Iden-
tifizierung die ursprünglichste Form der Gefühls-
bindung an ein Objekt ist, zweitens daß sie auf
regressivem Wege zum Ersatz für eine libidinöse
Objektbindung wird, gleichsam durch Introjektion
des Objekts ins Ich, und daß sie drittens bei jeder
72 Massenpsychologie und loh-Analys^
neu wahrgenommenen Gemeinsamkeit mit einer
Person, die nicht Objekt der Sexualtriebe ist, ent-
stehen kann. Je bedeutsamer diese Gemeinsamkeit
ist, desto erfolgreicher muß diese partielle Identi-
fizierung werden können und so dem Anfang einer
neuen Bindung entsprechen.
Wir ahnen bereits, daß die gegenseitige Bin-
dung der Massenindividuen von der Natur einer
solchen Identifizierung durch eine wichtige affektive
Gemeinsamkeit ist, und können vermuten, diese Ge-
meinsamkeit liege in der Art der Bindung an den
Führer. Eine andere Ahnung kann uns sagen, daß
wir weit davon entfernt sind, das Problem der Iden-
tifizierung erschöpft zu haben, daß wir vor dem
Vorgang stehen, den die Psychologie „Einfühlung"
heißt, und der den größten Anteil an unserem Ver-
ständnis für das Ichfremde anderer Personen hat.
Aber wir wollen uns hier auf die nächsten affektiven
Wirkungen der Identifizierung beschränken und
ihre Bedeutung für unser intellektuelles Leben bei-
seite lassen.
Die psychoanalytische Forschung, die ge-
legentlich auch schon die schwierigeren Probleme
der Psychosen in Angriff genommen hat, konnte uns
auch die Identifizierung in einigen anderen Fällen
VII. Die Identifizierung 73
aufzeigen, die unserem Verständnis nicht ohne wei-
teres zugänglich sind. Ich werde zwei dieser Fälle
als Stoff für unsere weiteren Überlegungen ausführ-
lich behandeln.
Die Genese der männlichen Homosexualität ist
in einer großen Reihe von Fällen die folgende: Der
junge Mann ist ungewöhnlich lange und intensiv
im Sinne des Ödipuskomplexes an seine Mutter
fixiert gewesen. Endlich kommt doch nach vollen-
deter Pubertät die Zeit, die Mutter gegen ein anderes
Sexualobjekt zu vertauschen. Da geschieht eine plötz-
liche Wendung; der Jüngling verläßt nicht seine
Mutter, sondern identifiziert sich mit ihr, er wandelt
sich in sie um und sucht jetzt nach Objekten, die
ihm sein Ich ersetzen können, die er so lieben und
pflegen kann, wie er es von der Mutter erfahren
hatte. Dies ist ein häufiger Vorgang, der beliebig
oft bestätigt werden kann und natürlich ganz un-
abhängig von jeder Annahme ist, die man über die
organische Triebkraft und die Motive jener plötz-
lichen Wandlung macht. Auffällig an dieser Iden-
tifizierung ist ihre Ausgiebigkeit, sie wandelt das
Ich in einem höchst wichtigen Stück, im Sexual-
charakter, nach dem Vorbild des bisherigen Objekts
um. Dabei wird das Objekt selbst aufgegeben, ob
74 Massenpsychologie und Ich-Analyse
durchaus oder nur in dem Sinne, daß es im Un-
bewußten erhalten bleibt, steht hier außer Diskus-
sion. Die Identifizierung mit dem aufgegebenen oder
verlorenen Objekt zum Ersatz desselben, die Intro-
jektion dieses Objekts ins Ich, ist für uns allerdings
keine Neuheit mehr. Ein solcher Vorgang läßt sich
gelegentlich am kleinen Kind unmittelbar beobach-
ten. Kürzlich wurde in der Internationalen Zeitschrift
für Psychoanalyse eine solche Beobachtung ver-
öffentlicht, daß ein Kind, das unglücklich über den
Verlust eines Kätzchens war, frischweg erklärte, es
sei jetzt selbst das Kätzchen, dem entsprechend auf
allen Vieren kroch, nicht am Tische essen wollte
usw.*
Ein anderes Beispiel von solcher Introjektion
des Objekts hat uns die Analyse der Melancholie
gegeben, welche Affektion ja den realen oder affek-
tiven Verlust des geliebten Objekts unter ihre auf-
fälligsten Veranlassungen zählt. Ein Hauptcharakter
dieser Fälle ist die grausame Selbstherabsetzung des
Ichs in Verbindung mit schonungsloser Selbstkritik
und bitteren Selbstvorwürfen. Analysen haben er-
geben, daß diese Einschätzung und diese Vorwürfe
• Markuszewlcz, Beitrag zum autistischen Denken bei
Kindern. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse. VI., 1920.
VII. Die Identifizierung 75
im Grunde dem Objekt gelten und die Rache des
Ichs an diesem darstellen. Der Schatten des Objekts
ist auf das Ich gefallen, sagte ich an anderer Stelle.
Die Introjektion des Objekts ist hier von unverkenn-
barer Deutlichkeit.
Diese Melancholien zeigen uns aber noch etwas
anderes, was für unsere späteren Betrachtungen
wichtig werden kann. Sie zeigen uns das Ich ge-
teilt, in Ziwei Stücke zerfällt, von denen das eine
gegen das andere wütet. Dies andere Stück ist das
durch Introjektion veränderte, das das verlorene
Objekt einschließt. Aber auch das Stück, das sich
so grausam betätigt, ist uns nicht unbekannt. Es
schließt das Gewissen ein, eine kritische Instanz im
Ich, die sich auch in normalen Zeiten dem Ich kritisch
gegenübergestellt hat, nur niemals so unerbittlich
und so ungerecht. Wir haben schon bei früheren
Anlässen die Annahme machen müssen (Narzißmus,
Trauer und MelanchoHe), daß sich in unserem Ich
eine solche Instand entwickelt, welche sich vom an-
deren Ich absondern und in Konflikte mit ihm ge-
raten kann. Wir nannten sie das „Ichideal" und
schrieben ihr an Funktionen die Selbstbeobachtung,
das moralische Gewissen, die Traumzensur und den
Haupteinfluß bei der Verdrängung zu. Wir sagten.
76 Massenpsychologie und Ich-Analyse
sie sei der Erbe des ursprünglichen Narzißmus, in
dem das kindliche Ich sich selbst genügte. Allmäh-
lich nehme sie aus den Einflüssen der Umgebung
die Anforderungen auf, die diese an das Ich stelle,
denen das Ich nicht immer nachkommen könne, so
«
daß der Mensch, wo er mit seinem Ich selbst nicht
zufrieden sein kann, doch seine Befriedigung in dem
aus dem Ich differenzierten Ichideal finden dürfe.
Im Beobachtungswahn, stellten wir ferner fest,
werde der Zerfall dieser Instanz offenkundig und
dabei ihre Herkunft aus den Einflüssen der Autori-
täten, voran der Eltern, aufgedeckt*. Wir haben aber
nicht vergessen anzuführen, daß das Maß der Ent-
fernung dieses Ichideals vom aktuellen Ich für das
einzelne Individuum sehr variabel ist, und daß bei
vielen diese Differenzierung innerhalb des Ichs nicht
weiter reicht als beim Kinde.
Ehe wir aber diesen Stoff zum Verständnis der
libidinösen Organisation einer Masse verwenden
können, müssen wir einige andere der Wechsel-
beziehungen zwischen Objekt und Ich in Betracht
ziehen.
Wir wissen sehr gut, daß wir mit diesen der Patho-
logie entnommenen Beispielen das Wesen der Identi-
* Zur Einführung des Narzißmus, 1. c.
VII. Die Identifizienms: 77
fizierung nicht erschöpft haben und somit am Rätsel der
Massenbildung ein Stück unangerührt lassen. Hier müßte
eine viel gründlichere und mehr umfassende psycho-
logische Analyse eingreifen. Von der Identifizierung führt
ein Weg über die Nachahmung zur Einfühlung, d. h. ztun
Verständnis des Mechanismus, durch den uns überhaupt
eine Stellungnahme zu einem anderen Seelenleben er-
möglicht wird. Auch an den Äußerungen einer bestehen-
den Identifizierung ist noch vieles aufzuklären. Sie hat
unter anderem die Folge, daß man die Aggression gegen
die Person, mit der man sich identifiziert hat, einschränkt,
sie verschont und ihr Hilfe leistet. Das Studium solcher
Identifizierungen, wie sie z. B. der Clangemeinschaft
zugrunde liegen, iergab Robertson Smith das
überraschende Resultat, daß sie auf der Anerkennung
einer gemeinsamen Substanz beruhen (Kinship and Mar-
riage, 1885), daher auch durch eine gemeinsam genom-
mene Mahlzeit geschaffen werden können. Dieser Zug
gestattet es, eine solche Identifizierung mit der von mir
in „Totem und Tabu" konstruierten Urgeschichte der
menschlichen Familie zu verknüpfen.
6
VIIL
Verliebtheit und Hypnose.
Der Sprachgebrauch bleibt selbst in seinen
Launen irgend einer Wirklichkeit treu. So nennt er
zwar sehr mannigfaltige Gefühlsbeziehungen „Liebe",
die auch wir theoretisch als Liebe zusammenfassen,
zweifelt aber dann wieder, ob diese Liebe die eigent-
liche, richtige, wahre sei, und deutet so auf eine ganze
Stufenleiter von Möglichkeiten innerhalb der Liebes-
phänomene hin. Es wird uns auch nicht schwer, die-
selbe in der Beobachtung aufzufinden.
In einer Reihe von Fällen ist die Verliebtheit
nichts anderes als Objektbesetzung von Seiten der
Sexualtriebe zum Zweck der direkten Sexualbefrie-
digung, die auch mit der Erreichung dieses Zieles
erlischt; das ist das, was man die gemeine, sinnliche
Liebe heißt. Aber wie bekannt, bleibt die libidinöse
Situation selten so einfach. Die Sicherheit, mit der
man auf das Wiedererwachen des eben erloschenen
VIII. Verliebtlielt und Hypnose 79
Bedürfnisses rechnen konnte, muß wohl das nächste
Motiv gewesen sein, dem Sexualobjekt eine dauernde
Besetzung zuzuwenden, es auch in den begierde-
freien Zwischenzeiten zu „lieben".
Aus der sehr merkwürdigen Entwicklungs-
geschichte des menschlichen Liebeslebens kommt ein
zweites Moment hinzu. Das Kind hatte in der ersten,
mit fünf Jahren meist schon abgeschlossenen Phase
in einem Eltemteil ein erstes Liebesobjekt gefunden,
auf welches sich alle seine Befriedigimg heischenden
Sexualtriebe vereinigt hatten. Die dann eintretende
Verdrängung erzwang den Verzicht auf die meisten
dieser kindlichen Sexualziele und hinterließ eine tief-
greifende Modifikation des Verhältnisses zu den
Eltern. Das Kind blieb fernerhin an die Eltern ge-
bunden, aber mit Trieben, die man „zielgetiemmte"
nennen muß. Die Gefühle, die es von nun an für
diese geliebten Personen empfindet, werden als
„zärtliche" bezeichnet. Es ist bekannt, daß im Un-
bewußten die früheren „sinnlichen" Strebungen
mehr oder minder stark erhalten bleiben, so daß
die ursprüngliche Vollströmung in gewissem Sinne
weiterbesteht*.
Mit der Pubertät setzen bekanntlich neue sehr
* S. Sexualtiheorie l c,
6*
80 Massei]psychd.02ie und Ich-Analyse
intensive Strebungen nach den direkten Sexualziefen
an. In ungünstigen Fällen bleiben sie als sinnliche
Strömung von den fortdauernden ,,zärtlichen" Ge-
fühlsrichtungen geschieden. Man hat dann das Bild
vor sich, dessen beide Ansichten von gewissen Rich-
tungen der Literatur so gerne idealisiert werden.
Der Mann zeigt schwärmerische Neigungen zu hoch-
geachteten Frauen, die ihn aber zum Liebesverkehr
nicht reizen, und ist nur potent gegen andere Frauen,
die er nicht „liebt", geringschätzt oder selbst ver-
achtet *. Häufiger indes gelingt dem Heranwachsen-
den ein gewisses Maß von Synthese der unsinn-
lichen, himmlischen und der sinnlichen, irdischen
Liebe, und ist sein Verhältnis zum Sexualobjekt
durch das Zusammenwirken von imgehemmten mit
zielgehemmten Trieben gekennzeichnet^ Nach dem
Beitrag der zielgehemmten Zärtüchkeitstriebe kann
man die Höhe der Verliebtheit im Gegensatz zum
bloß sinnlichen Begehren bemessen.
Im Rahmen dieser Verliebtheit ist uns von An-
fang an das Phänomen der Sexualüberschätzung auf-
gefallen, die Tatsache, daß das geliebte Objekt eine
gewisse Freiheit von der Kritik genießt, daß alle
• über die alteenuelnste Erniedrigung des Liebestebeirs. Samm-
lung, 4. Folge, 1918.
VIII. Verliebtheit und Hyimose 81
seine Eigenschaften höher eingeschätzt werden als
die ungeliebter Personen oder als zu einer Zeit, da
es nicht geliebt wurde. Bei einigermaßen wirksamer
Verdrängung oder Zurücksetzung der sinnlichen
Strebungen kommt die Täuschung zustande, daß das
Objekt seiner seelischen Vorzüge wegen auch sinn-
lich geliebt wird, während umgekehrt erst das sinn-
liche Wohlgefallen ihm diese Vorzüge verliehen
haben mag.
Das Bestreben, welches hier das Urteil fälscht,
ist das der Idealisierung. Damit ist uns aber
die Orientierung erleichtert; wir erkennen, daß das
Objekt so behandelt wird wie das eigene Ich, daß also
in der Verliebtheit ein größeres Maß narzißtischer
Libido auf das Objekt überfließt. Bei manchen For-
men der Liebeswahl wird es selbst augenfällig, daß
das Objekt dazu dient, ein eigenes, nicht erreichtes
Ichideal zu ersetzen. Man liebt es wegen der Voll-
kommenheiten, die man fürs eigene Ich angestrebt
hat und die man sich nun auf diesem Umweg zur
Befriedigung seines Narzißmus verschaffen möchte.
Nehmen Sexualüberschätzung und Verliebtheit
noch weiter zu, so wird die Deutung des Bildes
immer unverkennbarer. Die auf direkte Sexualbefrie-
digung drängenden Strebungen können nun ganz
82 Massei]3>sychologie und Ich-Analyse
zurückgedrängt werden, wie es z. B. regelmäßig
bei der schwärmerischen Liebe des Jünglings ge-
schieht; das Ich wird immer anspruchsloser, beschei-
dener, das Objekt immer großartiger, wertvoller;
es gelangt schließlich in den Besitz der gesamten
Selbstliebe des Ichs, so daß dessen Selbstaufopferung
zur natürlichen Konsequenz wird. Das Objekt hat
das Ich sozusagen aufgezehrt. Züge von Demut,
Einschränkung des Narzißmus, Selbstschädigung
sind in jedem Falle von Verliebtheit vorhanden; im
extremen Falle werden sie nur gesteigert und durch
das Zurücktreten der sinnlichen Ansprüche bleiben
sie alleinherrschend.
Dies ist besonders leicht bei unglücklicher, un-
erfüllbarer Liebe der Fall, da bei jeder sexuellen Be-
friedigung doch die Sexualüberschätzung immer
wieder eine Herabsetzung erfährt. Gleichzeitig mit
dieser „Hingabe" des Ichs an das Objekt, die sich
von der sublimierten Hingabe an eine abstrakte Idee
schon nicht mehr unterscheidet, versagen die dem
Ichideal zugeteilten Funktionen gänzlich. Es schweigt
die Kritik, die von dieser Instanz ausgeübt wird;
alles was das Objekt tut und fordert, ist recht und
untadelhaft. Das Gewissen findet keine Anwendung
auf alles, was zugunsten des Objekts geschieht;
VIII. Verliobtlieit wad Hypnose 83
in der Liebesverblendung wird man reuelos zum
Verbrecher. Die ganze Situation läßt sich restlos in
eine Formel zusammenfassen: Das Objekt hat
sich an dieStelle des Ichideals ge-
setzt.
Der Unterschied der Identifizierung von der
Verliebtheit in ihren höchsten Ausbildungen, die man
Faszination, verliebte Hörigkeit heißt, ist nun leicht
zu beschreiben. Im ersteren Falle hat sich das Ich
um die Eigenschaften des Objekts bereichert, sich
dasselbe nach Ferenczi's Ausdruck „introji-
ziert"; im zweiten Fall ist es verarmt, hat sich dem
Objekt hingegeben, dasselbe an die Stelle seines
wichtigsten Bestandteils gesetzt. Indes merkt man
bei näherer Erwägung bald, daß eine solche Dar-
stellung Gegensätze vorspiegelt, die nicht bestehen.
Es handelt sich ökonomisch nicht um Verarmung
oder Bereicherung, man kann auch die extreme Ver-
liebtheit so beschreiben, daß das Ich sich das Objekt
introjiziert habe. Vielleicht trifft eine andere Unter-
scheidung eher das Wesentliche. Im Falle der Iden-
tifizierung ist das Objekt verloren gegangen oder
aufgegeben worden; es wird dann im Ich wieder
aufgerichtet, das Ich verändert sich partiell nach dem
Vorbild des verlorenen Objekts. Im anderen Falle
84 Massenpsycbolosie und loh-Analyse
ist das Objekt erhalten geblieben und wird als sol-
ches von Seiten und auf Kosten des Ichs überbesetzt.
Aber auch hiegegen erhebt sich ein Bedenken. Steht
es denn fest, daß die Identifizierung das Aufgeben
der Objektbesetzung voraussetzt, kann es nicht
Identifizierung bei erhaltenem Objekt geben? Und
ehe wir uns in die Diskussion dieser heikein Frage
einlassen, kann uns bereits die Einsicht aufdämmern,
daß eine andere Alternative das Wesen dieses Sach-
verhalts in sich faßt, nämlich ob da&Objekt an
die Stelle des Ichs oder des Ichideals
gesetztwird.
Von der Verliebtheit ist offenbar kein weiter
Schritt zur Hypnose. Die Übereinstimmungen beider
sind augenfällig. Dieselbe demütige Unterwerfung,
Gefügigkeit, Kritiklosigkeit gegen den Hypnotiseur
wie gegen das geliebte Objekt. Dieselbe Aufsaugung
der eigenen Initiative; kein Zweifel, der Hypnotiseur
ist an die Stelle des Ichideals getreten. Alle Verhält-
nisse sind in. der Hypnose nur noch deutlicher und
gesteigerter, so daß es zweckmäßiger wäre, die Ver-
liebtheit durch die Hypnose zu erläutern als um-
gekehrt. Der Hypnotiseur ist das einzige Objekt,
kein anderes wird neben ihm beachtet. Daß das Ich
traumhaft erlebt, was er fordert und behauptet,
VIIL Verliebtheit und Hypnose 85
mahnt uns daran, daß wir verabsäumt haben, unter
den Funktionen des Ichideals auch die Ausübung der
Realitätsprüfung zu erwähnen*. Kein Wunder, daß
das Ich eine Wahrnehmung für real hält, wenn die
sonst mit der Aufgabe der Realitätsprüfung betraute
psychische Instanz sich für diese Realität einsetzt.
Die völlige Abwesenheit von Strebungen mit un-
gehemmten Sexualzielen trägt zur extremen Reinheit
der Erscheinungen weiteres bei. Die hypnotische
Beziehung ist eine uneingeschränkte verliebte Hin-
gabe bei Ausschluß sexueller Befriedigung, während
eine solche bei der Verliebtheit doch nur zeitweilig
zurückgeschoben ist und als spätere ZielmögUchkeit
im Hintergrunde verbleibt.
Anderseits können wir aber auch sagen, die
hypnotische Beziehung sei — wenn dieser Ausdruck
gestattet ist — eine Massenbildung zu zweien. Die
Hypnose ist kein gutes Vergleichsobjekt mit der
Massenbildung, weil sie vielmehr mit dieser identisch
ist. Sie isoliert uns aus dem komplizierten Gefüge
der Masse ein Element, das Verhalten des Massen-
Individuums zum Führer. Durch diese Einschrän-
kung der Zahl scheidet sich die Hypnose von der
* S. Metapsychobgisch'e Ergänzung zur Traumlehre. Samm-
lung kleiner Schriften zur NeurosemleihTe, Vierte Folge, 1918.
B6 Massenpsycholosie und loh-Analyse
Massenbildung, wie durch den Wegfall der direkt
sexuellen Strebungen von der Verliebtheit, Sie hält
insoferne die Mitte zwischen beiden.
Es ist interessant zu sehen, daß gerade die ziel-
gehemmten Sexualstrebungen so dauerhafte Bindun-
gen der Menschen aneinander erzielen. Dies versteht
sich aber leicht aus der Tatsache, daß sie einer vollen
Befriedigung nicht fähig sind, während ungehemmte
Sexualstrebungen durch die Abfuhr bei der Errei-
chung des jedesmaligen Sexualziels eine außer-
ordentUche Herabsetzung erfahren. Die sinnliche
Liebe ist dazu bestimmt, in der Befriedigung zu
erlöschen; um andauern zu können, muß sie mit
rein zärtlichen, d. h. zielgehemmten Komponenten
von Anfang an versetzt sein oder eine solche Um-
setzung erfahren.
Die Hypnose würde uns das Rätsel der libidi-
nösen Konstitution einer Masse glatt lösen, wenn
sie selbst nicht noch Züge enthielte, die sich der bis-
herigen rationellen Aufklärung — als Verliebtheit
bei Ausschluß direkt sexueller Strebungen — ent-
ziehen. Es ist noch vieles an ihr als unverstanden,
als mystisch anzuerkennen. Sie enthält einen Zusatz
von Lähmung aus dem Verhältnis eines Übermäch-
tigen zu einem Ohnmächtigen, Hilflosen, was etwa
VIII. Vedkötfaeit und Hypnose 87
zur Schreckhypnose der Tiere ' überleitet. Die Art,
wie sie erzeugt wird, ihre Beziehung zum Schlaf,
sind nicht durchsichtig, und die rätselhafte Auswahl
von Personen, die sich für sie eignen, während an-
dere sie gänzlich ablehnen, weist auf ein noch un-
bekanntes Moment hin, welches in ihr verwirklicht
wird, und das vielleicht erst die Reinheit der Libido-
einstellungen in ihr ermöglicht. Beachtenswert ist
auch, daß häufig das moralische Gewissen der hyp-
notisierten Person sich selbst bei sonst voller sug-
gestiver Gefügigkeit resistent zeigen kann. Aber das
mag daher kommen, daß bei der Hypnose, wie sie
zumeist geübt wird, ein Wissen erhalten geblieben
sein kann, es handle sich nur um ein Spiel, eine un-
wahre Reproduktion einer anderen, weit lebens-
wichtigeren Situation.
Durch die bisherigen Erörterungen sind wir
aber voll darauf vorbereitet, die Formel für die
libidinöse Konstitution einer Masse anzugeben.
Wenigstens einer solchen Masse, wie wir sie bisher
betrachtet haben, die also einen Führer hat und nicht
durch allzu viel „Organisation" sekundär die Eigen-
schaften eines Individuums erwerben konnte. Eine
solche primäre MasseisteineAnzahl
von Individuen, die ein und dasselbe
88
MassenpsydboloKle «md Ich-Analyse
Objekt an dieStelle ihres Ichideals
gesetzt und sich infolgedessen in
ihrem Ich miteinander identifiziert
haben. Dies Verhältnis läßt eine graphische Dar-
stellung zu:
(chideal
Objekt
äußeres
Objelct
IX.
Der Herdentrieb.
Wir werden uns nur kurze Zeit der Illusion
freuen, durch diese Formel das Rätsel der Masse
gelöst zu haben. Alsbald muß uns die Mahnung
beunruhigen, daß wir ja im wesentlichen die Ver-
weisung auf das Rätsel der Hypnose angenommen
haben, an dem so vieles noch unerledigt ist. Und
nun zeigt uns ein anderer Einwand den weiteren
Weg.
Wir dürfen uns sagen, die ausgiebigen affek-
tiven Bindungen, die wir in der Masse erkennen,
reichen voll aus, um einen ihrer Charaktere zu er-
klären, den Mangel an Selbständigkeit und Initiative
beim Einzelnen, die Oleichartigkeit seiner Reaktion
mit der aller anderen, sein Herabsinken zum Massen-
individuum sozusagen. Aber die Masse zeigt, wenn
wir sie als Ganzes ins Auge fassen, mehr; die Züge
von Schwächung der intellektuellen Leistung, von
90 Massenpsycbologie und loh-Anaiyse
Ungehemmtheit der Affektivität, die Unfähigkeit zur
Mäßigung und zum Aufschub, die Neigtmg zur
Überschreitung aller Schranken in der Oefühls-
äußerung und zur vollen Abfuhr derselben in Hand-
lung, dies und alles Ähnliche, was wir bei L e B o n
so eindrucksvoll geschildert finden, ergibt ein un-
verkennbares Bild von Regression der seelischen
Tätigkeit auf eine frühere Stufe, wie wir sie bei
Wilden oder bei Kindern zu finden nicht erstaunt
sind. Eine solche Regression gehört insbesondere
zum Wesen der gemeinen Massen, während sie, wie
wir gehört haben, bei hoch organisierten, künst-
lichen weitgehend hintangehalten werden kann.
Wir erhalten so den Eindruck eines Zustandes,
in dem die vereinzelte Gefühlsregung und der per-
sönliche intellektuelle Akt des Individuums zu
schwach sind, um sich allein zur Geltung zu brin-
gen, und durchaus auf Bekräftigung durch gleich-
artige Wiederholung von Seiten der anderen warten
müssen. Wir werden daran erinnert, wieviel von
diesen Phänomenen der Abhängigkeit zur normalen
Konstitution der menschlichen Gesellschaft gehört,
wie wenig Originalität und persönUcher Mut sich
in ihr findet, wie sehr jeder Einzelne durch die Ein-
stellungen einer Massenseele beherrscht wird, die
IX. Der Herdentrieb 91
sich als Rasseneigentümlichkeiten, Standesvorurteile,
öffentliche Meinung u. dgl. kundgeben. Das Rätsel
des suggestiven Einflusses vergrößert sich für uns,
wenn wir zugeben, daß ein solcher nicht allein vom
Führer, sondern auch von jedem Einzelnen auf jeden
Einzelnen geübt wird, und wir machen uns den Vor-
wurf, daß wir die Beziehung zum Führer einseitig
herausgehoben, den anderen Faktor der gegenseiti-
gen Suggestion aber ungebührend zurückgedrängt
haben.
Auf solche Weise zur Bescheidenheit gewiesen,
werden wir geneigt sein, auf eine andere Stimme
zu horchen, welche uns Erklärung auf einfacheren
Grundlagen verspricht. Ich entnehme eine solche
dem klugen Buch von W. Trotter über den
Herdentrieb, an dem ich nur bedauere, daß es sich
den durch den letzten großen Krieg entfesselten
Antipathien nicht ganz entzogen hat*.
T r o 1 1 e r leitet die an der Masse beschriebe-
nen seelischen Phänomene von einem Herdeninstinkt
(gregariousness) ab, der dem Menschen wie anderen
Tierarten angeboren zukommt. Diese Herden-
haftigkeit ist biologisch eine Analogie und gleich-
* W. Trotter, Instincts of the Herd in Peace and War.
London 1916.
92 Mass€npsychologi€ und Ich-Analyse
sam eine Fortführung der Vielzelligkeit, im
Sinne der Libidotheorie eine weitere Äußerung
der von der Libido ausgehenden Neigung aller
gleichartigen Lebewesen, sich zu immer umfassen-
deren Einheiten zu vereinigen*. Der Einzelne fühlt
sich unvollständig (incomplete), wenn er allein ist.
Schon die Angst des kleinen Kindes sei eine Äuße-
rung dieses Herdeninstinkts. Widerspruch gegen die
Herde ist soviel wie Trennung von ihr und wird
darum angstvoll vermieden. Die Herde lehnt aber
alles Neue, Ungewohnte ab. Der Herdeninstinkt sei
etwas Primäres, nicht weiter Zerlegbares (which
cannot be split up).
T r o 1 1 e r gibt als die Reihe der von ihm als
primär angenommenen Triebe (oder Instinkte): den
Selbstbehauptungs-, Ernährungs-, Geschlechts- und
Herdentrieb. Der letztere gerate oft in die Lage, sich
den anderen gegenüberzustellen. Schuldbewußtsein
und Pflichtgeführ seien die charakteristischen Besitz-
tümer eines gregarious animal. Vom Herdeninstinkt
läßt T r o 1 1 e r auch die verdrängenden Kräfte aus-
gehen, welche die Psychoanalyse im Ich aufgezeigt
hat, und folgerichtig gleicherweise die Widerstände,
* Siehe meinen Aufsatz: Jenseits des Lustprinzips. Beiheft II
zur Internationalein Zeitschrift für Psychoaiialyse, VI., 1920
IX. Der Herdentrieb 93
auf welche der Arzt bei der psychoanalytischen Be-
handlung stößt. Die Sprache verdanke ihre Bedeu-
tung ihrer Eignung zur gegenseitigen Verständi-
gung in der Herde, auf ihr beruhe zum großen Teil
die Identifizierung der Einzelnen miteinander.
Wie L e B o n vorwiegend die charakteristischen
flüchtigen Massenbildungen und M^Dougall
die stabilen Vergesellschaftungen, so hat T r o 1 1 e r
die allgemeinsten Verbände, in denen der Mensch,
dies ^ojov jroXiriKov lebt, in den Mittelpunkt seines
Interesses gerückt und deren psychologische Be-
gründung angegeben. Für T r o 1 1 e r bedarf es aber
keiner Ableitung des Herdentriebes, da er ihn als
primär und nicht weiter auflösbar bezeichnet. Seine
Bemerkung, Boris Sidis leite den Herdentrieb
von derSuggestibilität ab, ist zum Glück für ihn über-
flüssig; es ist eine Erklärung nach bekanntem, un-
befriedigendem .Muster, und die Umkehrung dieses
Satzes, also daß die Suggestibilität ein Abkömmling
des Herdeninstinkts sei, erschiene mir bei weitem
einleuchtender.
Aber gegen Trotters Darstellung läßt sich
mit noch besserem Recht als gegen die anderen ein-
wenden, daß sie auf die Rolle des Führers in der
Masse zu wenig Rücksicht nimmt, während wir doch
94 MaäenpsvcbolOKie und Idi-Analyse
eher zum gegenteiligen Urteil neigen, daß das Wesen
der Masse bei Vernachlässigung des Führers nicht
zu begreifen sei. Der Herdeninstinkt läßt überhaupt
für den Führer keinen Raum, er kommt nur so zu-
fäUig zur Herde hinzu, und im Zusammenhange
damit steht, daß von diesem Trieb aus auch kein
Weg zu einem Gottesbedürfnis führt; es fehlt der
Hirt zur Herde. Außerdem aber kann man Trot-
ters Darstellung psychologisch untergraben, d. h.
man kann es zum mindesten wahrscheinüch machen^
daß der Herdentrieb nicht unzerlegbar, nicht in dem
Sinne primär ist wie der Selbsterhaltungstrieb und
der Geschlechtstrieb.
Es ist natürlich nicht leicht, die Ontogenese des
Herdentriebes zu verfolgen. Die Angst des kleinen
Kindes, wenn es allein gelassen wird, die Trotter
bereits als Äußerung des Triebes in Anspruch neh-
men will, legt doch eine andere Deutung näher. Sie
gilt der Mutter, später anderen vertrauten Personen
und ist der Ausdruck einer tmerfüllten Sehnsucht,
mit der das Kind noch nichts anderes anzufangen
■ in Angst zu verwandeln*. Die Angst
1 kleinen Kindes wird auch nicht durch
)rlesuiif:en zur Einführung in die Psychoanalyse, über
IX. Der Herdentrieb 95
den Anblick eines beliebigen anderen „aus der
Herde" beschwichtigt, sondern im Gegenteil durch
das Hinzukommen eines solchen „Fremden" erst
hervorgerufen. Dann merkt man beim Kinde lange
nichts von einem Herdeninstinkt oder Massengef iihl.
Ein solches bildet sich zuerst in der mehrzähligen
Kinderstube aus dem Verhältnis der Kinder zu den
Eltern, und zwar als Reaktion auf den anfänglichen
Neid, mit dem das ältere Kind das jüngere aufnimmt.
Das ältere Kind möchte gewiß das nachkommende
eifersüchtig verdrängen, von den Eltern fernhalten und
es aller Anrechte berauben, aber angesichts der Tat-
sache, daß auch dieses Kind — wie alle späteren —
in gleicherweise von den Eltern geliebt wird, und
infolge der Unmöglichkeit, seine feindselige Einstel-
lung ohne eigenen Schaden festzuhalten, wird es zur
Identifizierung mit den anderen Kindern gezwungen,
und es bildet sich in der Kinderschar ein Massen-
oder Gemeinschaftsgefühl, welches dann in der
Schule seine weitere Entwicklung erfährt. Die erste
Forderung dieser Reaktionsbildung ist die nach
Gerechtigkeit, gleicher Behandlung für alle. Es ist
bekannt, wie laut und unbestechlich sich dieser An-
spruch in der Schule äußert. Wenn man schon selbst
nicht der Bevorzugte sein kann, so soll doch wenig-
96 MassenpsycboloKie und loh-Analyse
stens keiner von allen bevorzugt werden. Man
könnte diese Umwandlung und Ersetzung der Eifer-
sucht durch ein Massengefühl in Kinderstube und
Schulzimmer für unwahrscheinlich halten, wenn man
nicht den gleichen Vorgang später unter anderen
Verhältnissen neuerlich beobachten würde. Man
denke an die Schar von schwärmerisch verliebten
Frauen und Mädchen, die den Sänger oder Pianisten
nach seiner Produktion umdrängen. Gewiß läge es
jeder von ihnen nahe, auf die andere eifersüchtig zu
sein, allein angesichts ihrer Anzahl und der damit
verbundenen Unmöglichkeit, das Ziel ihrer Verliebt-
heit zu erreichen, verzichten sie darauf, und anstatt
sich gegenseitig die Haare auszuraufen, handeln sie
wie eine einheitliche Masse, huldigen dem Gefeierten
in gemeinsamen Aktionen und wären etwa froh, sich
in seinen Lockenschmuck zu teilen. Sie haben sich,
ursprünglich Rivalinnen, durch die gleiche Liebe zu
dem nämlichen Objekt miteinander identifizieren
können. Wenn eine Triebsituation, wie ja gewöhn-
lich, verschiedener Ausgänge fähig ist, so werden
wir uns nicht verwundern, daß jener Ausgang zu-
stande kommt, mit dem die Möglichkeit einer ge-
wissen Befriedigung verbunden ist, während ein
anderer, selbst ein näher liegender, unterbleibt.
IX. Der Herdentrieb 97
weil die realen Verhältnisse ihm die Erreichung
dieses Zieles versagen.
Was man dann später in der Gesellschaft als
Oemeingeist, esprit de.corps usw. wirksam findet,
verleugnet nicht seine Abkunft vom ursprünglichen
Neid. Keiner soll sich hervortun wollen, jeder das
gleiche sein und haben. Soziale Gerechtigkeit will
bedeuten, daß man sich selbst vieles versagt, damit
auch die anderen darauf verzichten müssen, oder was
dasselbe ist, es nicht fordern können. Diese Gleich-
heitsforderung ist die Wurzel des sozialen Gewis-
sens und des Pflichtgefühls. In unerwarteter Weise
enthüllt sie sich in der Infektionsangst der Syphi-
litiker, die wir durch die Psychoanalyse verstehen
gelernt haben. Die Angst dieser Armen entspricht
ihrem heftigen Sträuben gegen den unbewußten
Wunsch, ihre Infektion auf die anderen auszubreiten,
denn warum sollten sie allein infiziert und von so
vielem ausgeschlossen sein und die anderen nicht?
Auch die schöne Anekdote vom Urteil Salomonis
hat denselben Kern. Wenn der einen Frau das Kind
gestorben ist, soll auch die andere kein lebendes
haben. An diesem Wunsch wird die Verlustträgerin
erkannt.
98 Massenpsycfaoloeie und Ich-Anaiyse
Das soziale Gefühl ruht also auf der Umwen-
dung eines erst feindseligen Gefühls in eine positiv
betonte Bindung von der Natur einer Identifizierung.
Soweit wir den Hergang bis jetzt durchschauen kön-
nen, scheint sich diese Umwendung unter dem Ein-
fluß einer gemeinsamen zärtlichen Bindung an eine
außer der Masse stehende Person zu vollziehen.
Unsere Analyse der Identifizierung erscheint uns
selbst nicht als erschöpfend, aber unserer gegen-
wärtigen Absicht genügt es, wenn wir auf den
einen Zug, daß die konsequente Durchführung der
Gleichstellung gefordert wird, zurückkommen. Wir
haben bereits bei der Erörterung der beiden künst-
lichen Massen, Kirche und Armee, gehört, ihre Vor-
aussetzung sei, daß alle von einem, dem Führer, in
gleicher Weise geliebt werden. Nun vergessen wir
aber nicht, daß die Gleichheitsforderung der Masse
nur für die Emzelnen derselben, nicht für den Führer
gilt. Alle Einzelnen sollten einander gleich sein, aber
alle wollen sie von einem beherrscht werden. Viele
:r-_._:-i._ jjjg gjj,|j nüteinander identifizieren können,
einziger, ihnen allen Überlegener, das ist
tion, die wir in der lebensfähigen Masse
:ht finden. Getrauen wir uns also, die Aus-
1 1 e r*s, der Mensch sei ein Herden-
IX. Der Herdentrieb 99
tier, dahin zu korrigieren, er sei vielmehr ein
Hordentier, ein Einzelwesen einer von einem
Oberhaupt angeführten Horde.
X.
Die Masse nnd die Urhorde.
Im Jahre 1912 habe ich die Vermutung von
Ch. Darwin aufgenommen, daß die Urform der
menschlichen Gesellschaft die von einem starken
Männchen unumschränkt beherrschte Horde war.
Ich habe darzulegen versucht, daß die Schicksale
dieser Horde unzerstörbare Spuren in der mensch-
lichen Erbgeschichte hinterlassen haben, speziell, daß
die Entwicklung des Totemismus, der die Anfänge
von Religion, Sittlichkeit und sozialer Gliederung in
sich faßt, mit der gewaltsamen Tötung des Ober-
hauptes und der Umwandlung der Vaterhorde in
eine Brüdergemeinde zusammenhängt*. Es ist dies
zwar nur eine Hypothese wie so viele andere, mit
denen die Prähistoriker das Dunkel der Urzeit auf-
zuhellen versuchen — eine „just so story" nannte sie
♦ Totem und Tabu, 2. Auflage 1920.
X. Die Masse und die Urhordie 101
witzig ein nicht unliebenswürdiger englischer Kri-
tiker (K r o e g e r) — aber ich meine, es ist ehren-
voll für eine solche Hypothese, wenn sie sich ge-
eignet zeigt, Zusammenhang und Verständnis auf
immer neuen Gebieten zu schaffen.
Die menschlichen Massen zeigen uns wiederum
das vertraute Bild des überstarken Einzelnen in-
mitten einer Schar von gleichen Genossen, das auch
in unserer Vorstellung von der Urhorde enthalten
ist. Die Psychologie dieser Masse, wie wir sie aus
den oft erwähnten Beschreibungen kennen, — der
Schwund der bewußten Einzelpersönlichkeit, die
Orientierung von Gedanken und Gefühlen nach glei-
chen Richtungen, die Vorherrschaft der Affektivität
und des unbewußten Seelischen, die Tendenz zur
unverzügüchen Ausführung auftauchender Absich-
ten, — das alles entspricht einem Zustand von Re-
gression zu einer primitiven Seelentätigkeit, wie man
sie gerade der Urhorde zuschreiben möchte.
Für die Urhorde muß insbesondere gelten, was wir
vorhin in der allgemeinen Charakteristik der Menschen
beschrieben haben. Der Wille des Einzelnen war zu
schwach, er getraute sich nicht der Tat. Es kamen gar
keine anderen Impulse zustande als kollektive, es gab
nur einen Qemeinwillen, keinen singulären. Die Vorstel-
lung wagte es nicht, sich in Willen umzusetzen, wenn
102 Massenpsychologle und Ich-AnaJyse
sie sich nicht durch die Wahrnehmung ihrer allgemeinen
Verbreitung gestärkt fand. Diese Schwäche der Vorstel-
lung findet ihre Erklärung in der Stärke der allen gemein-
samen Qefühlsblndung, aber die Oleichartigkeit der
Lebensumstände und das Fehlen eines privaten Eigen-
tums kommen hinzu, um die Gleichförmigkeit der seeli-
schen Akte bei den Einzelnen zu bestimmen. — Auch die
exkrementeilen Bedürfnisse schließen, wie man an Kin-
dern und Soldaten merken kann, die Gemeinsamkeit nicht
aus. Die einzige mächtige Ausnahme macht der sexuelle
Akt, bei dem der Dritte zumindest überflüssig, im äußer-
sten Fall zu einem peinlichen Abwarten verurteilt ist.
Über die Reaktion des Sexualbedürfnisses (der Qenital-
befriedigung) gegen das Herdenhafte siehe unten.
Die Masse erscheint uns so als ein Wiederauf-
leben der Urhorde. So wie der Urmensch in jedem
Einzelnen virtuell erhalten ist, so kann sich aus einem
beliebigen Menschenhaufen die Urhorde wieder her-
stellen; soweit die Massenbildung die Menschen
habituell beherrscht, erkennen wir den Fortbestand
der Urhorde in ihr. Wir müssen schheßen, die
Psychologie der Masse sei die älteste Menschen-
psychologie; was wir unter Vernachlässigung aller
este als Individualpsychologie isoliert haben,
?rst später, allmählich und sozusagen immer
r partiell aus der alten Massenpsychologie
;hoben. Wir werden noch den Versuch
X. Die Masse und die Urhorde 103
wagen, den Ausgangspunkt dieser Entwicklung
anzugeben.
Eine nächste Überlegung zeigt uns, in welchem
Punkt diese Behauptung einer Berichtigung bedarf.
Die Individualpsychologie muß vielmehr ebenso alt
sein wie die Massenpsychologie, denn von Anfang gab
es zweierlei Psychologien, die der Massenindividuen
und die des Vaters, Oberhauptes, Führers. Die Ein-
zelnen der Masse waren so gebunden, wie wir sie
heute finden, aber der Vater der Urhorde war frei.
Seine intellektuellen Akte waren auch in der Verein-
zelung stark und unabhängig, sein Wille bedurfte
nicht der Bekräftigung durch den anderer. Wir neh-
men konsequenterweise an, daß sein Ich wenig
libidinös gebunden war, er liebte niemand außer sich,
und die anderen nur insoweit sie seinen Bedürf-
nissen dienten. Sein Ich gab nichts Überschüssiges
an die Objekte ab.
Zu Eingang der Menschheitsgeschichte war er
der Übermensch, den Nietzsche erst von
der Zukunft erwartete. Noch heute bedürfen die
Massenindividuen der Vorspiegelung, daß sie in
gleicher und gerechter Weise vom Führer geliebt
werden, aber der Führer selbst braudit niemand
anderen zu lieben, er darf von Herrennatur sein,
104 Massenpsycholosie und Ich-Analyse
absolut narzißfisch, aber selbstsicher und selbstän-
dig. Wir wissen, daß die Liebe den Narzißmus ein-
dämmt und könnten nachweisen, wie sie durch diese
Wirkung Kulturfaktor geworden ist.
Der Urvater der Horde war noch nicht un-
sterblich, wie er es später durch Vergottung wurde.
Wenn er starb, mußte er ersetzt werden; an seine
Stelle trat wahrscheinlich ein jüngster Sohn, der bis
dahin Massenindividuum gewesen war wie ein
anderer. Es muß also eine Möglichkeit geben, die
Psychologie der Masse in Individualpsychologie
umzuwandeln, es muß eine Bedingimg gefunden
werden, unter der sich solche Umwandlung leicht
vollzieht, ähnlich wie es den Bienen möglich ist,
aus einer Larve im Bedarfsfalle eine Königin anstatt
einer Arbeiterin zu ziehen. Man kann sich da nur
dies eine vorstellen: Der Urvater hatte seine Söhne
an der Befriedigung ihrer direkten sexuellen Stre-
bungen verhindert; er zwang sie zur Abstinenz und
infolgedessen zu den Gefühlsbindungen an ihn und
aneinander, die aus den Strebungen mit gehemmtem
Sexualziel hervorgehen konnten. Er zwang sie sozu-
sagen in die Massenpsychologie. Seine sexuelle Eifer-
sucht und Intoleranz sind in letzter Linie die Ursache
der Massenpsychologie geworden.
X. Die Masse und die Urhorde 105
Es läßt sich etwa auch annehmen, daß die ver-
triebenen Söhne, vom Vater getrennt, den Fortschritt von
der Identifizierung miteinander zur homosexuellen Objekt-
liebe machten und so die Freiheit gewannen, den Vater
zu töten.
Für den, der sein Nachfolger wurde, war auch
die Möglichkeit der sexuellen Befriedigung gegeben
und damit der Austritt aus den Bedingungen der
Massenpsychologie eröffnet. Die Fixierung der
Libido an das Weib, die Möglichkeit der Befriedi-
gung ohne Aufschub und Aufspeicherung machte
der Bedeutung zielgehemmter Sexualstrebungen ein
Ende und ließ den Narzißmus immer zur gleichen
Höhe ansteigen. Auf diese Beziehung der Liebe zur
Charakterbildung werden wir in einem Nachtrag
zurückkommen.
Heben wir noch als besonders lehrreich hervor^
in welcher Beziehung zur Konstitution der Urhorde
die Veranstaltung steht, mittels deren eine künstliche
Masse zusammengehalten wird. Bei Heer und Kirche
haben wir gesehen, es ist die Vorspiegelung, daß der
Führer alle Einzelnen in gleicher und gerechter
Weise liebt. Dies ist aber geradezu die idealistische
Umarbeitung der Verhältnisse der Urhorde, in der
sich alle Söhne in gleicher Weise vom Urvater ver-
folgt wußten und ihn in gleicher Weise fürchteten.
106 Maseenpsychologie und Idi-Analyse
Schon die nächste Form der menschlichen Sozietät,
der totemistische Clan, hat diese Umformung, auf
die alle sozialen Pflichten aufgebaut sind, zur Vor-
aussetzung. Die unverwüstliche Stärke der Familie
als einer natürlichen Massenbildung beruht darauf,
daß diese notwendige Voraussetzung der gleichen
Liebe des Vaters für sie wirklich zutreffen kann.
Aber wir erwarten noch mehr von der Zurück-
führung der Masse auf die Urhorde. Sie soll uns
auch das noch Unverstandene, Geheimnisvolle an
der Massenbildung näher bringen, da^ sich hinter
den Rätselworten Hypnose und Suggestion ver-
birgt. Und ich meine, sie kann es auch leisten. Er-
innern wir uns daran, daß die Hypnose etwas direkt
Unheimliches an sich hat; der Charakter des Un-
heimlichen deutet aber auf etwas der Verdrängung
verfallenes Altes und Wohlvertrautes hin *. Denken
wir daran, wie die Hypnose eingeleitet wird. Der
Hypnotiseur behauptet im Besitz einer geheimnis-
vollen Macht zu sein, die dem Subjekt den eigenen
Willen raubt^ oder, was dasselbe ist, das Subjekt
glaubt es von ihm. Diese geheimnisvolle Macht —
populär noch oft als tierischer Magnetismus bezeich-
net — muß dieselbe sein, welche den Primitiven als
• Das Unheimliche. Imago, V, 1919.
X. Die Masse und di« Urhorde 107
Quelle des Tabu gilt, dieselbe, die von Königen und
Häuptlingen ausgeht und die es gefährlich macht,
sich ihnen zu nähern (Mana). Im Besitz dieser Macht
will nun der Hypnotiseur sein und wie bringt er sie
zur Erscheinung? Indem er die Person auffordert,
ihm in die Augen zu sehen; er hypnotisiert in typi-
scher Weise durch seinen Blick. Gerade der Anblick
des Häuptlings ist aber für den Primitiven gefährlich
und unerträglich, wie später der der Gottheit für
den Sterblichen. Noch Moses muß den Mittelsmann
zwischen seinem Volke und Jehova machen, da das
Volk den Anblick Gottes nicht ertrüge, und wenn er
von der Gegenwart Gottes zurückkehrt, strahlt sein
Antlitz, ein Teil des „Mana" hat sich wie beim
Mittler * der Primitiven auf ihn übertragen.
Man kann die Hypnose allerdings auch auf
anderen Wegen hervorrufen, was irreführend ist
und zu unzulänglichen physiologischen Theorien
Anlaß gegeben hat, z. B. durch das Fixieren eines
glänzenden Gegenstandes oder durch das Horchen
auf ein monotones Geräusch. In Wirklichkeit dienen
diese Verfahren nur der Ablenkung und Fesselung
der bewußten Aufmerksamkeit. Die Situation ist die
nämliche, als ob der Hypnotiseur der Person gesagt
♦ S. Totem und Tabu, und die dort zitierten OueUen.
108 Massenpsycfaologie und iQh-Anailyse
hätte: Nun beschäftigen Sie sich ausschließlich mit
meiner Person, die übrige Welt ist ganz uninter-
essant. Gewiß wäre es technisch unzweckmäßig,
wenn der Hypnotiseur eine solche Rede hielte; das
Subjekt würde durch sie aus seiner unbewußten Ein-
stellung gerissen und zum bewußten Widerspruch
aufgereizt werden. Aber während der Hypnotiseur
es vermeidet, das bewußte Denken des Subjekts auf
seine Absichten zu richten, und die Versuchsperson
sich in eine Tätigkeit versenkt, bei der ihr die Welt
uninteressant vorkommen muß, geschieht es, daß
sie unbewußt wirklich ihre ganze Aufmerksamkeit
auf den Hypnotiseur konzentriert, sich in die Ein-
stellung des Rapports, der Übertragung, zum Hyp-
notiseur begibt. Die indirekten Methoden des Hyp-
notisierens haben also, ähnUch wie manche Techni-
ken des Witzes, den Erfolg, gewisse Verteilungen
der seelischen Energie, welche den Ablauf des unbe-
wußten Vorgangs stören würden, hintanzuhalten,
und sie führen schließlich zum gleichen Ziel wie die
direkten Beeinflussungen durch Anstarren oder
Streichen.
Die Situation, daß die Person unbewußt auf den
Hypnotiseur eingestellt ist, während sie sich bewußt mit
gleichbleibenden, uninteressanten Wahrnehmungen be-
X. Die Masse utul die Urborde 109
schäftigt findet ein Gegenstück in den Vorkommnissen
der psyclioanalytischen Behandlung, das hier erwähnt zu
werden verdient. In jeder Analyse ereignet es sich min-
destens einmal, daß der Patient hartnäckig behauptet,
jetzt fiele ihm aber ganz bestimmt nichts ein. Seine freien
Assoziationen stocken und die gewöhnlichen Antriebe,
sie in Gang zu bringen, schlagen fehl. Durch Drängen er-
reicht man endlich das Eingeständnis, der Patient denke
an die Aussicht aus dem Fenster des Behandlungsraumes,
an die Tapete der Wand, die er vor sich sieht, oder an
die Gaslampe, die von der Zimmerdecke herabhängt. Man
weiß dann sofort, daß er sich in die Übertragung begeben
hat, von noch unbewußten Gedanken in Anspruch genom-
men wird, die sich auf den Arzt beziehen, und sieht die
Stockung in den Einfällen des Patienten schwinden, so-
bald man ihm diese Aufklärung gegeben hat.
Ferenczi hat richtig herausgefunden, daß
sich der Hypnotiseur mit dem Schlafgebot, welches
oft zur Einleitung der Hypnose gegeben wird, an
die Stelle der Eltern setzt. Er meinte zwei Arten der
Hypnose unterscheiden zu sollen, eine schmeichle-
risch begütigende, die er dem Muttervorbild, und
eine drohende, die er dem Vater zuschrieb *. Nun
bedeutet das Gebot zu schlafen in der Hypnose auch
nichts anderes als die Aufforderung, alles Interesse
von der Welt abzuziehen und auf die Person des
Hypnotiseurs zu konzentrieren; es wird auch vom
* Ferenczi, Inirolektion und Übertrasimg. Jahrbudh der
Psychoanalyse, I, 1909.
8
110 Massenpsycbologie ond loh-Analyse
Subjekt so verstanden, denn in dieser Abziehting des
Interesses von der Außenwelt liegt die psycholo-
gische Charakteristik des Schlafes und auf ihr beruht
die Verwandtschaft des Schlafes mit dem hypnoti-
schen Zustand.
Durch seine Maßnahmen weckt also der Hyp-
notiseur beim Subjekt ein Stück von dessen archai-
scher Erbschaft, die auch den Eltern entgegenkam
und im Verhältnis zum Vater eine individuelle Wie-
derbelebung erfuhr, die Vorstellung von einer über-
mächtigen und gefährlichen Persönlichkeit, gegen
die man sich nur passiv-masochistisch einstellen
konnte, an die man seinen Willen verlieren mußte,
und mit der allein zu sein, „ihr unter die Augen zu
treten" ein bedenkliches Wagnis schien. Nur so
etwa können wir uns das Verhältnis eines Einzelnen
der Urhorde zum Urvater vorstellen. Wie wir aus
anderen Reaktionen wissen, hat der Einzelne ein
variables Maß von persönlicher Eignung zur Wie-
derbelebung solch alter Situationen bewahrt. Ein
Wissen, daß die Hypnose doch nur ein Spiel, eine
lügenhafte Erneuerung jener alten Eindrücke ist,
kann aber erhalten bleiben und für den Widerstand
gegen allzu ernsthafte Konsequenzen der hypnoti-
schen Willensaufhebung sorgen.
X. Die Masse und die Urhordie 111
Der unheimliche, zwanghafte Charakter der
Massenbildung, der sich in ihren Suggestionser-
scheinungen zeigt, kann also wohl mit Recht auf
ihre Abkunft von der Urhorde zurückgeführt wer-
den. Der Führer der Masse ist noch immer der ge-
fürchtete Urvater, die Masse will immer noch von
unbeschränkter Gewalt beherrscht werden, sie ist
im höchsten Grade autoritätssüchtig, hat nach Le
Bon's Ausdruck den Durst nach Unterwerfung.
Der Urvater ist das Massenideal, das an Stelle des
Ichideals das Ich beherrscht. Die Hypnose hat ein
gutes Anrecht auf die Bezeichnung: eine Masse zu
zweit; für die Suggestion erübrigt die Definition
einer Überzeugung, die nicht auf Wahrnehmung
und Denkarbeit, sondern auf erotische Bindung ge-
gründet ist.
Es erscheint mir der Hervorhebung wert, daß wir
durch die Erörterungen . dieses Abschnittes veranlaßt
werden, von der B e r n h e i m'schen Auffassung der
Hypnose auf die naive ältere derselben zurückzugreifen.
Nach Bernheim sind alle hypnotischen Phänomene
von dem weiter nicht aufzuklärenden Moment der Sugge-
stion abzuleiten. Wir schheßen, daß die Suggestion eine
Teilerscheinung des hypnotischen Zustandes ist, der in
einer unbewußt erhaltenen Disposition aus der Urge-
schichte der menschlichen Familie seine gute Begrün-
dung hat.
8*
XL
Eine Stufe im Ich.
Wenn man, eingedenk der einander ergänzen-
den Beschreibungen der Autoren über Massen-
psychologie, das Leben der heutigen Einzehnenschen
überblickt, mag man vor den Komplikationen, die
sich hier zeigen, den Mut zu einer zusammenfassen-
den Darstellung verlieren. Jeder Einzelne ist ein
Bestandteil von vielen Massen, durch Identifizierung
vielseitig gebunden, und hat sein Ichideal nach den
verschiedensten Vorbildern aufgebaut. Jeder Ein-
zelne hat so Anteil an vielen Massenseelen, an der
seiner Rasse, des Standes, der Glaubensgemein-
schaft, der Staatlichkeit usw. und kann sich darüber
hinaus zu einem Stückchen Selbständigkeit und
Originalität erheben. Diese ständigen und dauer-
haften Massenbildungen fallen in ihren gleichmäßig
anhaltenden Wirkungen der Beobachtung weniger
auf als die rasch gebildeten, vergänglichen Massen,
XI. Eine Stufe im Ich • 113
nach denen L e Bon die glänzende psychologische
Charakteristik der Massenseele entworfen hat, und
in diesen lärmenden, ephemeren, den anderen gleich-
sam superponierten Massen begibt sich eben das '
Wunder, daß dasjenige, was wir eben als die indi-
viduelle Ausbildung anerkannt haben, spurlos, wenn
auch nur zeitweilig untergeht.
Wir haben dies Wunder «o verstanden, daß der
Einzelne sein Ichideal aufgibt und es gegen das im
Führer verkörperte Massenideal vertauscht. Das
Wunder, dürfen wir berichtigend hinzufügen, ist
nicht in 'aUen FäUen gleich groß. Die Sonderung
von Ich und Ichideal ist bei vielen Individuen nicht
weit vorgeschritten, die beiden fallen noch leicht zu-
sammen, das Ich hat sich oft die frühere narzißtische
Selbstgefälligkeit bewahrt. Die Wahl des Führers ,
wird durch dies Verhältnis sehr erleichtert. Er
braucht oft nur die typischen Eigenschaften dieser
Individuen in besonders scharfer und reiner Aus-
prägung zu besitzen und den Eindruck größerer -
Kraft und libidinöser Freiheit zu machen, so kommt
ihm das Bedürfnis nach einem starken Oberhaupt
entgegen und bekleidet ihn mit der Übermacht, auf
die er sonst vielleicht keinen Anspruch hätte. Die
anderen, deren Ichideal sich in seiner Person sonst
114 Massenpsychologie und IdinAnalyse
nicht ohne Korrektur verkörpert hätte, werden dann
„suggestiv", d. h. durch Identifizierung mitgerissen.
Wir erkennen, was wir zur Aufklärung der
libidinösen Struktur einer Masse beitragen konnten,
führt sich auf die Unterscheidung des Ichs vom jch-
ideal und auf die dadurch ermöglichte doppelte Art
der Bindung — Identifizierung und Einsetzung des
Objekts an die Stelle des Ichideals — zurück. Die
Annahme einer solchen Stufe im Ich als erster Schritt
einer Ichanalyse muß ihre Rechtfertigung allmählich
auf den verschiedensten Gebieten der Psychologie
#
erweisen. In meiner Schrift „Zur Einführung des
Narzißmus" * habe ich zusammengetragen, was
sich zunächst von pathologischem Material zur
Stütze dieser Sonderung verwerten ließ. Aber man
darf erwarten, daß sich ihre Bedeutung bei weiterer
Vertiefung in die Psychologie der Psychosen als eine
viel größere enthüllen wird. Denken wir daran, daß
das Ich nun in die Beziehung eines Objekts zu dem
au? ihm entwickelten Ichideal tritt, und daß mög-
Ucherweise alle Wechselwirkungen, die wir zwischen
äußerem Objekt und Gesamt-Ich in der Neurosen-
lehre kennen gelernt haben, auf diesem neuen Schau-
♦ Jahrbuch der Psychoanalyse, VI, 1914. — Sammlung kJelnex
Schriften zur Neurosenl-ehre, 4. Folge.
XI. Eiw Stufe im Idi 115
platz innerhalb des Ichs zur Wiederholung kommen.
Ich will hier nur einer der von diesem Stand-
punkt aus möglichen Folgerungen nachgehen und
damit die Erörterung eines Problems fortsetzen,
das ich an anderer Stelle ungelöst verlassen mußte ^ .
Jede der seelischen Differenzierungen, die uns be-
kannt geworden sind, stellt eine neue Erschwerung
der seelischen Funktion dar, steigert deren Labilität
und kann der Ausgangspunkt eines Versagens der
Funktion, einer Erkrankung werden. So haben wir
mit dem Geborenwerden den Schritt vom absolut
selbstgenügsamen Narzißmus zur Wahrnehmung
einer veränderlichen Außenwelt und zum Beginn
der Objektfindung gemacht, und damit ist verknüpft,
daß wir den neuen Zustand nicht dauernd ertragen,
daß wir ihn periodisch rückgängig machen und im
Schlaf zum früheren Zustand der Reizlosigkeit und
Objektvermeidung zurückkehren. Wir folgen dabei
allerdings einem Wink der Außenwelt, die uns durch
den periodischen Wechsel von Tag und Nacht zeit-
weilig den größten Anteil der auf uns wirkenden
Reize entzieht. Keiner ähnlichen Einschränkung ist
das zweite, für die Pathologie bedeutsamere Beispiel
* Trauer und Melancholie. Internationale Zeitschrift für Psycho-
analyse, IV, 1916/18. — Sammlung kleiner Schriften zur N-eurosen-
tehre, 4. Folge.
116 MassenpsyclioloEie und Icb-Aoatyse
unterworfen. Im Laufe unserer Entwicklung haben
wir eine Sonderung unseres seelischen Bestandes
in ein kohärentes Ich und in ein außerhalb dessen
gelassenes, unbewußtes Verdrängtes vorgenommen
und wir wissen, daß die Stabilität dieser Neuerwer-
bung beständigen Erschütterungen ausgesetzt ist.
Im Traum und in der Neurose pocht dieses Ausge-
schlossene um Einlaß an den von Widerständen be-
wachten Pforten, und in wacher Gesundheit bedie-
nen wir uns besonderer Kunstgriffe, um das Ver-
drängte mit Umgehung der Widerstände und unter
Lustgewinn zeitweilig In unser Ich aufzunehmen.
Witz und Humor, zum Teil auch das Komische über-
haupt, dürfen in diesem Licht betrachtet werden.
Jedem Kenner der Neurosenpsychologie werden
ähnliche Beispiele von geringerer Tragweite ein-
fallen, aber ich eile zu der beabsichtigten An^
Wendung.
Es wäre gut denkbar, daß auch die Scheidung
des Ichideals vom Ich nicht dauernd vertragen wird
und sich zeitweilig zurückbilden muß. Bei allen Ver-
td Einschränkungen, die dem Ich auferlegt
jt der periodische Durchbruch der Verbote
i ja die Institution der Feste zeigt, die ur-
1 nichts anderes sind als vom Gesetz gebe-
XI. Eine Stufe im Ich 117
tene Exzesse und dieser Befreiung auch ihren heite-
ren Charakter verdanken *. Die Saturnalien der
Römer und unser heutiger Karneval treffen in die-
sem wesentlichen Zug mit den Festen der Primitiven
zusammen, die in Ausschweifungen jeder Art mit
Übertretung der sonst heiligsten Gebote auszugehen
pflegen. Das Ichideal umfaßt aber die Summe aller
Einschränkungen, denen das Ich sich fügen soll, und
darum müßte die Einziehung des Ideals ein groß-
artiges Fest für das Ich sein, das dann wieder einmal
mit sich selbst zufrieden sein dürfte.
Es kommt immer zu einer Empfindung von Triumph,
wenn etwas im Ich mit dem Ichideal zusammenfällt. Als
Ausdruck der Spannung zwischen Ich und Ideal kann
auch das Schuldgefühl (imd Minderwertigkeitsgefühl)
verstanden werden.
T r 1 1 e r läßt die Verdrängung vom Herdentrieb
ausgehen. Es ist eher eine Übersetzung in eine andere
Ausdrucksweise als ein Widerspruch, wenn ich in der
„Einführung des Narzißmus'' gesagt habe : die Idealbildung
wäre von selten des Ichs die Bedingung der Verdrängung.
Es gibt bekanntüch Menschen, bei denen das
Allgemeingefühl der Stimmung in periodischer
Weise schwankt, von einer übermäßigen Gedrückt-
heit durch einen gewissen Mittelzustand zu einem
* Totem «nd Tabu.
Massenpsychalogie und Idi-Aoalyse
erhöhten Wohlbefinden, und zwar treten diese
Schwankungen in sehr verschieden großen Amplitu-
den auf, vom eben Merklichen bis zu jenen Extremen,
die als Melancholie und Manie höchst qualvoll oder
störend in das Leben der Betroffenen eingreifen. In
typischen Fällen dieser zyklischen Verstimmung
scheinen äußere Veranlassungen keine entscheidende
Rolle zu spielen; von inneren Motiven findet man
bei diesen Kranken nicht mehr oder nichts anderes
als bei allen anderen. Man hat sich deshalb gewöhnt,
diese Fälle als nicht psychogene zu beurteilen. Von
anderen, ganz ähnUchen Fällen zyklischer Verstim-
mung, die sich aber leicht auf seelische Traiunen
zurückführen, soll später die Rede sein.
Die Begründung dieser spontanen Stimmungs-
schwankungen ist also unbekannt; in den Mecha-
nismus der Ablösung einer Melancholie durch eine
Manie fehlt uns die Einsicht * Somit wären dies die
Kranken, für welche unsere Vermutung Geltung
haben könnte, daß ihr Ichideal zeitweilig in's Ich auf-
gelöst wird, nachdem es vorher besonders strenge
regiert hat.
Halten wir zur Vermeidung von Unklarheiten
Jest: Auf dem Boden unserer Ichanalyse ist es nicht
Zweifelhaft, daß beim Manischen Ich und Ichideal
' XI. Eine Stufe im loh lrl9
zusammengeflossen sind, so daß die Person sich
in einer durch keine Selbstkritik gestörten Stimmung
von Triumph und Selbstbeglücktheit des Wegfalls
von Hemmungen, Rücksichten und Selbstvorwürfen
erfreuen kann. Es ist minder evident, aber doch recht
wahrscheinlich, daß das Elend des Melancholikers
der Ausdruck eines scharfen Zwiespalts zwischen
beiden Instanzen des Ichs ist, in dem das übermäßig
empfindliche Ideal seine Verurteilung des Ichs im
Kleinheitswahn und in der Selbsterniedrigung scho-
nungslos zum Vorschein bringt. In Frage steht nur,
ob man die Ursache dieser veränderten Beziehungen
zwischen Ich und Ichideal in den oben postulierten
periodischen Auflehnungen gegen die neue Institu-
tion suchen, oder andere Verhältnisse dafür verant-
wortlich machen soll.
Der Umschlag in Manie ist kein notwendiger
Zug im Krankheitsbild der melancholischen Depres-
sion. Es gibt einfache, einmalige und auch periodisch
wiederholte Melancholien, welche niemals dieses
Schicksal haben. Anderseits gibt es MelanchoÜen,
bei denen die Veranlassung offenbar eine ätiolo-
gische Rolle spielt. Es sind die nach dem Verlust
eines geliebten Objekts, sei es durch den Tod des-
selben oder infolge von Umständen, die zum Rück-
120 I Massenpsydhologie uitid Ich^Analyse
zug der Libido vom Objekt genötigt haben. Eine
solche psychogene Melancholie kann ebensowohl in
Manie ausgehen und dieser Zyklus mehrmals wie-
derholt werden wie bei einer anscheinend spontanen.
Die Verhältnisse sind also ziemlich undurchsichtig,
zumal da bisher nur wenige Formen und Fälle von
Melancholie der psychoanalytischen Untersuchung
unterzogen worden sind * . Wir verstehen bis jetzt
nur jene Fälle, in denen das Objekt aufgegeben
wurde, weil es sich der Liebe unwürdig gezeigt
hatte. Es wird dann durch Identifizierung im Ich
wieder aufgerichtet und vom Ichideal streng gerich-
tet. Die Vorwürfe und Aggressionen gegen das Ob-
jekt kommen als melancholische Selbstvorwürfe zum
Vorschein.
Genauer gesagt: sie verbergen sich hinter den Vor-
würfen gegen das eigene Ich, verleihen ihnen die Festig-
keit, Zähigkeit und Unabweisbarkeit, durch weiche sich
die Selbstvorwürfe der Melancholiker auszeichnen.
Auch an eine solche Melancholie kann sich der
Umschlag in Manie anschließen, so daß diese Mög-
lichkeit einen von den übrigen Charakteren des
Krankheitsbildes unabhängigen Zug darstellt.
• Vgl. Abraham, Ansätze zur psychoanalytischen Erfor-
schung iwid Behandlung des manisch-depressiven Irreseins etc., 1912,
In »iKHnische Beiträge zur Psychoanalyse", 1921.
XI. Eine Stufe im loh 121
Ich sehe indes keine Schwierigkeit, das Moment
«
der periodischen Auflehnung des Ichs gegen das
Ichideal für beide Arten der Melancholien, die
psychogenen wie die spontanen, in Betracht kommen
zu lassen. Bei den spontanen kann man annehmen,
daß das Ichideal zur Entfaltung einer besonderen
Strenge neigt, die dann automatisch seine zeitweilige
Aufhebung zur Folge hat. Bei den psychogenen
würde das Ich zur Auflehnung gereizt durch die
Mißhandlung von selten seines Ideals, die es im FaU
der Identifizierung mit einem verworfenen Objekt
erfährt.
XII.
Nachträge.
Im Laufe der Untersuchung, die jetzt zu einem
vorläufigen Abschluß gekommen ist, haben sich uns
verschiedene Nebenwege eröffnet, die wir zuerst
vermieden haben, auf denen uns aber manche nahe
Einsicht winkte. Einiges von dem so zurückgestell-
ten wollen wir nun nachholen.
A. Die Unterscheidung von Ichidentifizierung
und Ichidealersetzung durch das Objekt findet eine
interessante Erläuterung an den zwei großen künst-
lichen Massen, die wir eingangs studiert haben, dem
Heer und der christlichen Kirche.
Es ist evident, daß der Soldat seinen Vorgesetz-
ten, also eigentlich den Armeeführer, zum Ideal
nimmt, während er sich mit seinesgleichen identifi-
ziert und aus dieser Ichgemeinsamkeit die Verpflich-
tungen der Kameradschaft zur gegenseitigen Hilfe-
leistung und Güterteilung ableitet. Aber er wird
XII. Nachträge 123
lächerlich, wenn er sich mit dem Feldherrn identifi-
zieren wül. Der Jäger in Wallensteins Lager ver-
spottet darob den Wachtmeister:
Wie er räuspert und wie er spuckt,
Das habt ihr ihm glücklich abgeguckt! . . .
Anders in der katholischen Kirche. Jeder Christ
liebt Christus als sein Ideal und fühlt sich den ande-
ren Christen durch Identifizierung verbunden. Aber
die Kirche fordert von ihm mehr. Er soll überdies
sich mit Christus identifizieren tmd die anderen
Christen lieben, wie Christus sie geliebt hat. Die
Kirche fordert also an beiden Stellen die Ergänzung
der durch die Massenbildung gegebenen Libido-
position. Die Identifizierung soll dort hinzukommen,
wo die Objektwahl stattgefunden hat, und die
Objektliebe dort, wo die Identifizierung besteht.
Dieses Mehr geht offenbar über die Konstitution der
Masse hinaus. Man kann ein guter Christ sein und
doch könnte einem die Idee, sich an Christi Stelle zu
setzen, wie er alle Menschen liebend zu umfassen,
ferne liegen. Man braucht sich ja nicht als schwacher
Mensch die Seelengröße und Liebesstärke des Hei-
lands zuzutrauen. Aber diese Weiterentwicklung
der Libidoverteilung in der Masse ist wahrscheinlich
124 Massenpsydhalosie imd Ich-Analyse
das Moment, auf welches das Christentum den An-
spruch gründet, eine höhere Sittlichkeit gewonnen
zu haben.
B. Wir sagten, es wäre mögüch, die Stelle in
der seelischen Entwicklung der Menschheit anzu-
geben, an der sich auch für den Einzelnen der Fort-
schritt von der Massen- zur Individualpsychologie
vollzog.
Das hier folgende steht unter dem Einflüsse eines
Gedankenaustausches mit Otto Rank.
Dazu müssen wir wieder kurz auf den wissen-
schaftlichen Mythus vom Vater der Urhorde zurück-
greifen. Er wurde später zum Weltenschöpfer erhöht,
mit Recht, denn er hatte alle die Söhne erzeugt,
welche die erste Masse zusammensetzten. Er war
das Ideal jedes einzelnen von ihnen, gleichzeitig ge-
fürchtet und verehrt, was für später den Begrifi des
Tabu ergab. Diese Mehrheit faßte sich einmal zu-
sammen, tötete und zerstückelte ihn. Keiner der
Massensieger konnte sich an seine Stelle setzen, oder
wenn es einer tat, erneuerten sich die Kämpfe, bis
sie einsahen, daß sie alle auf die Erbschaft des Vaters
verzichten müßten. Sie bildeten dann die totemistische
Brüdergemeinschaft, alle mit gleichem Rechte und
XII. Nachträse 125
durch die Totemverbote gebunden, die das Anden-
ken der Mordtat erhalten und sühnen sollten. Aber
die Unzufriedenheit mit dem Erreichten blieb und
wurde die Quelle neuer Entwicklungen. Allmählich
näherten sich die zur Brudermasse Verbundenen
einer Herstellung des alten Zustandes auf neuem
Niveau, der Mann wurde wiederum Oberhaupt
einer Familie und brach die Vorrechte der Frauen-
herrschaft, die sich in der vaterlosen Zeit festgesetzt
hatte. Zur Entschädigung mag er damals die Mutter-
gottheiten anerkannt haben, deren Priester kastriert
wurden zur Sicherung der Mutter nach dem Beispiel,
das der Vater der Urhorde gegeben hatte; doch war
die neue Familie nur ein Schatten der alten, der Väter
waren viele und jeder durch die Rechte des anderen
beschränkt.
Damals mag die sehnsüchtige Entbehrung einen
Einzelnen bewogen haben, sich von der Masse los-
zulösen und sich in die Rolle des Vaters zu versetzen.
Wer dies tat, war der erste epische Dichter, der
Fortschritt wurde in seiner Phantasie vollzogen.
Dieser Dichter log die Wirklichkeit um im Sinne
seiner Sehnsucht. Er erfand den heroischen Mythus.
Heros war, wer allein den Vater erschlagen hatte,
der im Mythus noch als totemistisches Ungeheuer
126 Massenpsydiologie und Idi-Analyse
erschien. Wie der Vater das erste Ideal des Knaben
gewesen war, so schuf jetzt der Dichter im Heros,
der den Vater ersetzen wül, das erste Ichideal. Die
Anknüpfung an den Heros bot wahrscheinlich der
jüngste Sohn, der Liebling der Mutter, den sie vor
der väterlichen Eifersucht beschützt hatte, und der
in Urhordenzeiten der Nachfolger des Vaters ge-
worden war. In der lügenhaften Umdichtung der
Urzeit wurde das Weib, das der Kampfpreis und die
Verlockung des Mordes gewesen war, wahrschein-
lich zur Verführerin und Anstifterin der Untat.
Der Heros will die Tat allein vollbracht haben,
deren sich gewiß nur die Horde als Ganzes getraut
hatte. Doch hat nach einer Bemerkung von Rank
das Märchen deutliche Spuren des verleugneten
Sachverhalts bewahrt. Denn dort kommt es häufig
vor, daß der Held, der eine schwierige Aufgabe zu
lösen hat — meist ein jüngster Sohn, nicht selten
einer, der sich vor dem Vatersurrogat dumm, d. h.
ungefährlich gestellt hat — diese Aufgabe doch nur
mit Hilfe einer Schar von kleinen Tieren (Bienen,
Ameisen) lösen kann. Dies wären die Brüder der
Urhorde, wie ja auch in der Traumsymbolik Insek-
ten, Ungeziefer die Geschwister (verächtlich: als
kleine Kinder) bedeuten. Jede der Aufgaben in
XII. Naditräge 127
Mythus und Märchen ist überdies leicht als Ersatz
der heroischen Tat zu erkennen.
Der Mythus ist also der Schritt, mit dem der
Einzelne aus der Massenpsychologie austritt. Der
erste Mythus war sicherlich der psychologische, der
Heroenmythus; der erklärende Naturmythus muß
weit später aufgekommen sein. Der Dichter, der
diesen Schritt getan und sich so in der Phantasie
von der Masse gelöst hatte, weiß nach einer weiteren
Bemerkung von Rank doch in der Wirklichkeit die
Rückkehr zu ihr zu finden. Denn er geht hin und er-
zählt dieser Masse die Taten seines Helden, die er
erfunden. . Dieser Held ist im Grunde kein anderer
als er selbst. Er senkt sich somit zur Realität herab
und hebt seine Hörer zur Phantasie empor. Die
Hörer aber verstehen den Dichter, sie können sich
auf Onmd der nämlichen sehnsüchtigen Beziehung
zum Urvater mit dem Heros identifizieren *.
Die Lüge des heroischen Mythus gipfelt in der
Vergottung des Heros. Vielleicht war der vergottete
Heros früher als der Vatergott, der Vorläufer der
Wiederkehr des Urvaters als Gottheit. Die Götter-
reihe liefe dann chronologisch so: Muttergöttin —
• Vgl Hanns Sachs, Qemeinsaime Tagträuime, Autoreferat
eines Vortrags au* dem VI. psychoanalytischen Kongreß im Haag,
1920. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, VI, 1920.
9*
128 Massenpsyc^olosle und Ich-Analyse
Heros — ^Vatergott. Aber erst mit der Erhöhung des
nie vergessenen Urvaters erhielt die Gottheit die
Züge, die wir noch heute an ihr kennen.
In dieser abgekürzten Darstellung ist auf alles Ma-
terial aus Sage, Mythus, Märchen, Sittengeschichte usw.
zur Stütze der Konstruktion verzichtet worden.
C. Wir haben in dieser Abhandlung viel von
direkten und von zielgehemmten Sexualtrieben ge-
sprochen und dürfen hoffen, daß diese Unterschei-
dung nicht auf großen Widerstand stoßen wird.
Doch wird eine eingehende Erörterung darüber nicht
unwillkommen sein, selbst wenn sie nur wiederholt,
was zum großen Teil bereits an früheren Stellen
gesagt worden ist.
Das erste, aber auch beste Beispiel zielgehemm-
ter Sexualtriebe hat uns die Xibidoentwicklung des
Kindes kennen gelehrt. Alle die Gefühle, welche das
Kind für seine Eltern und Pflegepersonen empfindet,
setzen sich ohne Schranke in die Wünsche fort,
welche dem Sexualstreben des Kindes Ausdruck
geben. Das Kind verlangt von diesen geliebten Per-
sonen alle Zärtlichkeiten, die ihm bekannt sind, will
1, berühren, beschauen, ist neugierig, ihre
1 zu sehen und bei ihren intimen Exkre-
chtungen anwesend zu sein, es verspricht,
XII. Nachträge 129
die Mutter oder Pflegerin zu heiraten, was immer es
sich darunter vorstellen mag, setzt sich vor, dem
Vater ein Kind zu gebären usw. Direkte Beobach-
tung sowie die nachträgliche analytische Durch-
leuchtung der Kindheitsreste lassen über das un-
mittelbare Zusammenfließen zärtlicher und eifer-
süchtiger Gefühle und sexueller Absichten keinen
Zweifel und legen uns dar, in wie gründlicher Weise
das Kind die geliebte Person zum Objekt aller seiner
noch nicht richtig zentrierten Sexualbestrebungen
macht. (Vgl. Sexualtheorie.)
Diese erste Liebesgestaltung des Kindes, die
typisch dem Ödipuskomplex zugeordnet ist, erliegt
dann, wie bekannt, vom Beginn der Latenzzeit an
einem Verdrängungsschub. Was von ihr erübrigt,
zeigt sich uns als rein zärtliche Gefühlsbindung, die
denselben Personen gilt, aber nicht mehr als „sexuell"
bezeichnet werden soll. Die Psychoanalyse, welche
die Tiefen des Seelenlebens durchleuchtet, hat es
nicht schwer aufzuweisen, daß auch die sexuellen
Bindungen der ersten Kinderjahre noch fortbestehen,
aber verdrängt und unbewußt. Sie gibt uns den Mut
zu behaupten, daß überall, wo wir ein zärtliches
Gefühl begegnen, dies der Nachfolger einer voU-
„sinnlichen" Objektbindung an die betreffende Per-
130 Massenpsycholosk und Ich-Analyse
son oder ihr Vorbild (ihre Imago) ist. Sie kann uns
freilich nicht ohne besondere Untersuchung ver-
raten, ob diese vorgängige sexuelle Vollströmung in
einem gegebenen Fall noch als verdrängt besteht
oder ob sie bereits aufgezehrt ist. Um es noch schär-
fer zu fassen: es steht fest, daß sie als Form und
Möglichkeit noch vorhanden ist und jederzeit wieder
durch Regression besetzt, aktiviert werden kann;
es fragt sich nur und ist nicht immer zu entscheiden,
welche Besetzung und Wirksamkeit sie gegenwärtig
noch hat. Man muß sich hierbei gleichmäßig vor
zwei Fehlerquellen in Acht nehmen, vor der Scylla
der Unterschätzung des verdrängten Unbewußten,
wie vor der Charybdis der Neigung, das Normale
durchaus mit dem Maß des Pathologischen zu
messen.
Der Psychologie, welche die Tiefe des Verdräng-
ten nicht durchdringen will oder kann, stellen sich die
zärtlichen Gefühlsbindungen jedenfalls als Ausdruck
von Strebungen dar, die nicht nach dem Sexuellen
zielen, wenngleich sie aus solchen, die danach ge-
strebt haben, hervorgegangen sind.
•Die feindseligen Gefühle, um ein Stück komplizierter
aufgebaut, machen hievon keine Ausnahme.
XII. Nachträge 131
Wir sind berechtigt zu sagen, sie sind von die-
sen sexuellen Zielen abgelenkt worden, wenngleich
es seine Schwierigkeiten hat, in der Darstellung einer
solchen Zielablenkung den Anforderungen der
Metapsychologie zu entsprechen. Übrigens halten
diese zielgehemmten Triebe immer noch einige der
ursprüngUchen Sexualziele fest; auch der zärtlich
Anhängliche, auch der Freund, der Verehrer sucht
die körperliche Nähe und den Anblick der nur mehr
im „paulini sehen" Sinne geliebten Person.
Wenn wir es wollen, können wir in dieser Zielablen-
kung einen Beginn von Sublimierung der
Sexualtriebe anerkennen oder aber die Grenze für
letztere noch ferner stecken. Die zielgehemmten
Sexualtriebe haben vor den ungehemmten einen
großen funktionellen Vorteil. Da sie einer eigentlich
vollen Befriedigung nicht fähig sind, eignen sie sich
besonders dazu, dauernde Bindungen zu schaffen,
während die direkt sexuellen jedesmal durch die Be-
friedigung ihrer Energie verlustig werden und auf
Erneuerung durch Wiederanhäufung der sexuellen
Libido warten müssen, wobei inzwischen das Objekt
gewechselt werden kann. Die gehemmten Triebe
sind jedes Maßes von Vermengung mit den unge-
hemmten fähig, können sich in sie rückverwandeln.
i
132 Ma5seinp$yohok)gie und Ich-Analyse
wie sie aus ihnen hervorgegangen sind. Es ist be-
kannt, wie leicht sich aus Gefühlsbeziehungen
freundschaftlicher Art, auf Anerkennung und Be-
wunderung gegründet, erotische Wünsche ent-
wickeln (das M o 1 i 6 r e'sche: Embrassez-moi pour
Tamour du Grec), zwischen Meister und Schülerin,
Künstler und entzückter Zuhörerin, zumal bei
Frauen. Ja die Entstehung solcher zuerst absichts-
loser Oefühlsbindungen gibt direkt einen viel began-
genen Weg zur sexuellen Objektwahl. In der „Fröm-
migkeit des Grafen von Zinzendorf" hat Pfister ein
überdeutliches, gewiß nicht vereinzeltes Beispiel da-
für aufgezeigt, wie nahe es liegt, daß auch intensive
religiöse Bindung in brünstige sexuelle Erregung
zurückschlägt. Anderseits ist auch die Umwand-
lung direkter, an sich kurzlebiger, sexueller Strebun-
gen in dauernde, bloß zärthche Bindung etwas sehr
gewöhnliches und die Konsolidierung einer aus ver-
liebter Leidenschaft geschlossenen Ehe beruht zu
einem großen Teil auf diesem Vorgang.
Es wird uns natürlich nicht verwundem zu
hören, daß die •zielgehemmten Sexualstrebungen
sich aus den direkt sexuellen dann ergeben, wenn
sich der Erreichung der Sexualziele innere oder
äußere Hindernisse entgegenstellen. Die Verdrän-
XII. Nacfaträse 133
gung der Latenzzeit ist ein solches inneres — oder
besser innerlich gewordenes — Hindernis. Vom
Vater der Urhorde haben wir angenommen, daß er
durch seine sexuelle Intoleranz alle Söhne zur Absti-
nenz nötigt und sie so in zielgehemmte Bindungen
drängt, während er selbst sich freien Sexualgenuß
vorbehält und somit ungebunden bleibt. Alle Bin-
dungen, auf denen die Masse beruht, sind von der
Art der zielgehemmten Triebe. Damit aber haben
wir uns der Erörterung eines neuen Themas genä-
hert, welches die Beziehung der direkten Sexual-
triebe zur Massenbildung behandelt.
Wir sind bereits durch die beiden letzten Be-
merkungen darauf vorbereitet zu finden, daß die
direkten Sexualstrebungen der Massenbildung un-
günstig sind. Es hat zwar auch in der Entwicklungs-
geschichte der Familie Massenbeziehungen der
sexuellen Liebe gegeben (die Gruppenehe), aber je
bedeutungsvoller die Geschlechtsliebe für das Ich
wurde, je mehr Verliebtheit sie entwickelte, desto
eindringlicher forderte sie die Einschränkung auf
zwei Personen — una cum uno — , die durch die
Natur des Genitalziels vorgezeichnet ist. Die polyga-
men Neigungen wurden darauf angewiesen, sich im
Nacheinander des Objektwechsels zu befriedigen.
134 Massenpsyöholosle und Ich-Analyse
Die beiden zum Zweck der Sexualbefriedigung auf-
einander angewiesenen Personen demonstrieren gegen
den Herdentrieb, das Massengefühl, indem sie die Einsam-
keit aufsuchen. Je verUebter sie sind, desto vollkommener
genügen sie einander. Die Ablehnung des Einflusses der
Masse äußert sich als Schamgefühl. Die äußerst heftigen
Gefühlsregungen der Eifersucht werden aufgeboten, um
die sexuelle Objektwahl gegen die Beeinträchtigung durch
eine Massenbindung zu schützen. Nur, wenn der zärtliche,
also persönliche, Faktor der Liebesbeziehimg völlig hinter
dem sinnlichen zurücktritt, wird der Liebesverkehr eines
Paares in Gegenwart anderer oder gleichzeitige Sexual-
akte innerhalb einer Gruppe wie bei der Orgie möglich.
Damit ist aber eine Regression zu einem frühen Zustand
der Geschlechtsbeziehungen gegeben, in dem die Ver-
Uebtheit noch keine Rolle spielte, die Sexualobjekte ein-
ander gleichwertig erachtet wurden, etwa im Sinne von
dem bösen Wort BernardSha w's : Verliebtsein heiße,
den Unterschied zwischen einem Weib und einem anderen
ungebührlich überschätzen.
Es sind reichlich Anzeichen dafür vorhanden, daß
die Verliebtheit erst spät in die Sexualbeziehungen zwi-
schen Mann und Weib Eingang fand, so daß auch die
Gegnerschaft zwischen Geschlechtsliebe und Massen-
bindung eine spät entwickelte ist. Nun kann es den An-
schein haben, als ob diese Annahme unverträglich mit
unserem Mythus von der Urfamilie wäre. Die Brüder-
schar soll doch durch die Liebe zu den Müttern und
Schwestern zum Vatermord getrieben worden sein, und
es ist schwer, sich diese Liebe anders denn als eine un-
gebrochene, primitive, d. h. als innige Vereinigung von
zärtlicher und sinnUcher vorzustellen. Allein bei weiterer
Überlegung löst sich dieser Einwand in eine Bestätigung
XII. Naditräs« 135
auf. Eine der Reaktionen auf den Vatermord war doch
die Einrichtung der totemistischen Exogamie, das Verbot
jeder sexuellen Beziehung mit den von Kindheit an zärt-
lich geliebten Frauen der Familie. Damit war der Keil
zwischen die zärtlichen und sinnlichen Regungen des
Mannes eingetrieben, der heute noch in seinem Liebes-
leben festsitzt *. Infolge dieser Exogamie mußten sich die
sinnlichen Bedürfnisse der Männer mit fremden und un-
geliebten Frauen begnügen.
In den großen künstlichen Massen, Kirche und
Heer, ist für das Weib als Sexualobjekt kein Platz.
Die Liebesbeziehung zwischen Mann und Weib
bleibt außerhalb dieser Organisationen. Auch wo
sich Massen bilden, die aus Männern und Weibern
gemischt sind, spielt der Oeschlechtsunterschied
keine Rolle. Es hat kaum einen Sinn zu fragen, ob
die Libido, welche die Massen zusammenhält, homo-
sexueller oder heterosexueller Natur ist, denn sie l
ist nicht nach den Geschlechtern differenziert und
sieht insbesondere von den Zielen der Genitalorga-
nisation der Libido völlig ab.
Die direkten Sexualstrebungen erhalten auch
für das sonst in der Masse aufgehende Einzelwesen
ein Stück individueller Betätigung. Wo sie überstark
* S. über die allsemeinste ErniedTigun's: des Llebeslebens, 1912,
Sammlung kUelner Schriften zur Neurosenlelire. 4. Folge.
136 Massenpsychologie und Ich-Analyse
werden, zersetzen sie jede Massenbildung. Die
katholische Kirche hatte die besten Motive, ihren
Gläubigen die Ehelosigkeit zu empfehlen und ihren
Priestern das Zölibat aufzuerlegen, aber die Ver-
liebtheit hat oft auch Geistliche zum Austritt aus der
Kirche getrieben. In gleicher Weise durchbricht die
Liebe zum Weibe die Massenbindungen der Rasse,
der nationalen Absonderung und der sozialen Klas-
senordnung und vollbringt damit kulturell wichtige
Leistungen. Es scheint gesichert, daß sich die homo-
sexuelle Liebe mit den Massenbindungen weit besser
verträgt, auch wo sie als ungehemmte Sexualstre-
bung auftritt; eine merkwürdige Tatsache, deren
Aufklärung weit führen dürfte.
Die psychoanalytische Untersuchung der
Psychoneurosen hat uns gelehrt, daß deren Sym-
ptome von verdrän gten, aber akt iv gebliebenen
direkten Sexualstrebungen^ abzuleiten sind. Man
kann diese Formel vervollständigen, wenn man hin-
zufügt: oder von solchen zielgehemmten, bei denen
die Hemmung nicht durchgehends gelungen ist oder
einer Rückkehr zum verdrängten Sexualziel den
Platz geräumt hat. Diesem Verhältnis entspricht, daß
die Neurose asozial macht, den von ihr Betrof-
fenen aus den habituellen Massenbildungen heraus-
r
XII. Naditräse 137
hebt. Man kann sagen, die Neurose wirkt in ähn-
licher Weise zersetzend auf die Masse wie die Ver-
liebtheit. Dafür kann man sehen, daß dort, wo ein
kräftiger Anstoß zur Massenbildung erfolgt ist, die
Neurosen zurücktreten und wenigstens für eine Zeit-
lang schwinden können. Man hat auch mit Recht
versucht, diesen Widerstreit von Neurose und
Massenbildung therapeutisch zu verwerten. Auch
wer das Schwinden der religiösen Illusionen in der
heutigen Kulturwelt nicht bedauert, wird zuge-
stehen, daß sie den durch sie Gebundenen den
stärksten Schutz gegen die Gefahr der Neurose
boten, so lange sie selbst noch in Kraft waren. Es
ist auch nicht schwer, in all den Bindungen an
mystisch - religiöse oder philosophisch - mystische
Sekten und Gemeinschaften den Ausdruck von
SchiefheÜungen mannigfaltiger Neurosen zu erken-
nen. Das alles hängt mit dem Gegensatz der direkten
und der zielgehemmten Sexualstrebungen zusammen.
Sich selbs^ überlassen ist der Neurotiker ge-
nötigt, sich die großen Massenbildungen, von denen
er ausgeschlossen ist, durch seine Symptombildun-
gen zu ersetzen. Er schafft sich seine eigene Phanta-
siewelt, seine Religion, sein Wahnsystem und wie-
derholt so die Institutionen der Menschheit in einer
138 Massenpsyohologie und Idi-iAnalyse
Verzerrung, welche deutlich den übermächtigen
Beitrag der direkten Sexualstrebungen bezeugt *.
E. Fügen wir zum Schluß eine vergleichende
Würdigung der Zustände, die uns beschäftigt haben,
vom Standpunkt der Libidotheorie an, der Verliebt-
heit, Hypnose, Massenbildung und der Neurose.
Die Verliebtheit beruht auf dem gleich-
zeitigen Vorhandensein von direkten und von ziel-
gehemmten Sexualstrebungen, wobei das Objekt
einen Teil der narzistischen Ichlibido auf sich zieht.
Sie hat nur Raum für das Ich und das Objekt.
Die Hypnose teilt mit der Verliebtheit die
Einschränkung auf diese beiden Personen, aber sie
beruht durchaus auf zielgehemmten Sexualstrebun-
gen und setzt das Objekt an die Stelle des Ichideals.
Die Masse vervielfältigt diesen Vorgang, sie
stimmt mit der Hypnose in der Natur der sie zusam-
menhaltenden Triebe und in der Ersetzung des Ich-
ideals durch das Objekt überein, aber sie fügt die
Identifizierung mit anderen Individuen hinzu, die
vielleicht ursprünglich durch die gleiche Beziehung
zum Objekt ermöglicht wurde.
Beide Zustände, Hypnose wie Massenbildung,
♦ S. Totem und Tabu, zu Ende des Abschnitts II: Das Tabu
«nd die Ambivalenz.
XII. Nacfaträse 139
sind Erbniederschläge aus der Phylogenese der
menschlichen Libido, die Hypnose als Disposition,
die Masse überdies als direktes Überbleibsel. Die
Ersetzung der direkten Sexualstrebungen durch die
zielgehemmten befördert bei beiden die Sonderung
von Ich und Ichideal, zu der bei der Verliebtheit
schon ein Anfang gemacht ist.
Die Neurose tritt aus dieser Reihe heraus.
Auch sie beruht auf einer Eigentümüchkeit der
menschlichen Libidoentwicklung, auf dem durch die
Latenzzeit unterbrochenen, doppelten Ansatz der
direkten Sexualfunktion. (S. Sexualtheorie, 4. Aufl.,
1920, S. 96.)
Insoferne teilt sie mit Hypnose und Massen-
bildung den Charakter einer Regression, welcher der
Verliebtheit abgeht. Sie tritt überall dort auf, wo der
Fortschritt von direkten zu zielgehemmten Sexual-
trieben nicht voll geglückt ist, und entspricht einem
Konflikt zwischen den ins Ich aufgenommenen
Trieben, welche eine solche Entwicklung durch-
gemacht haben, und den Anteilen derselben Triebe,
welche vom verdrängten Unbewußten her — eben-
so wie andere völlig verdrängte Triebregungen —
nach ihrer direkten Befriedigung streben. Sie ist
inhaltlich ungemein reichhaltig, da sie alle möglichen
140 Massenpsydiologie und Idi^Atialyse
Beziehungen zwischen Ich und Objekt umfaßt, so-
wohl die, in denen das Objekt beibehalten als auch
andere, in denen es aufgegeben oder im Ich selbst
aufgerichtet ist, aber ebenso die Konfliktbeziehungen
zwischen dem Ich und seinem Ichideal.
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LANE MEDICAL LIBRARY
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